Hallo Jungs,

dieses Weihnachten mache ich es mir mal leicht. Ihr bekommt alle den gleichen Brief. Ich kenne das noch aus der Generation meiner Eltern. Da wurden aus jeder Ecke des Familienclans sog. Jahresberichte verschickt. Dann konnten alle unter dem Tannenbaum nachlesen, wann Tante Erna sich in Rimini einen bösen Sonnenbrand eingefangen und Onkel Egon seinen neuen Partykeller mit Zapfanlage und Chiantiflaschen ausgestattet hat. Schadenfreude und Neid brachten wenigstens etwas Menschlichkeit in den Heiligen Abend. Weihnachten bedeutet mir schon lange nichts mehr. Aber bei einer schönen Flasche Rotwein hatte der alte Mann jetzt trotzdem auf einmal Lust, sich an die sehr unterschiedlichen Feste in seinem Leben zu erinnern. Vielleicht ging es euch ja auch einmal so ähnlich.

Los gehts mit Berlin 1943. Krieg. Jüdische Nachbarn verschwanden spurlos und an der Front starben junge Männer auf beiden Seiten zu den Klängen von Lili Marleen. In Berlin-Lankwitz erstrahlte die Wohnung in hellem Lichterglanz. Der verhätschelte Junge musste sich entscheiden, ob er lieber mit der elektrischen Eisenbahn spielt oder mit dem Schuco-Rennauto. Aber da waren ja auch noch die Armee aus Zinnsoldaten und der tolle Berliner Doppelstockbus, den Opa in Schlesien für seinen Enkel gedrexelt hatte. Unser polnisches Kindermädchen musste mich immer wieder auf ihm um den Tannenbaum schieben, bis Oma streng zum Weihnachtslieder-Singen aufforderte. Kurz danach wurden wir ausgebombt. Das habe ich den Engländern sehr übel genommen, besonders aber, dass sie mir mein geliebtes Spielzeug kaputt gemacht hatten. Scheiß-Tommies! Als Kind hast du eben andere Prioritäten. 

Dann Berchtesgaden 1945. Nachkriegsweihnacht. Nach abenteuerlicher Flucht einen Umkleideraum für Fahrer der Postbusse zugewiesen bekommen. Eine schmale Liege für Mutter mit meinem kleinen Bruder, für den großen verwöhnten Berliner Jungen ein harter Schlafplatz auf dem Bettvorleger. Weihnachten dann bei Onkel und Tante, die sich eine Bleibe in einer Nazi-Villa erobert hatten. Vor der Bescherung ging es statt in die Kirche zum Güterbahnhof. Die Großen klauten Kohle von den Waggons, die Kleinen standen Schmiere. Alles perfekt, als hätten wir nie etwas Anderes gemacht. So wurde es warm in der Herberge. Der im Wald geklaute Tannenbaum erstrahlte wie zu Friedenszeiten. Für uns Kinder gab es Äpfel, Nüsse, Kekse und Bonbons. Herrlich. Spielzeug Fehlanzeige. Aber mein Lieblingsonkel hatte auf dem Schwarzmarkt eine Dampfmaschine organisiert. Wir vier Jungs waren selig, wenn wir nicht immer wieder von den Weihnachtsliedern der Alten gestört worden wären. Mit Taschen voller Bonbons stapfte ich durch den Schnee nach Hause und sank todmüde auf meinen Bettvorleger. Ob Jesus in seiner Krippe gerne mit mir getauscht hätte? Meine Bonbons wären ihm sicher lieber gewesen.

Jetzt nach Eschwege. 1954 – 1960. Anfangs saß noch die ganze Familie Landrat zu Weihnachten in der Marktkirche, argwöhnisch beäugt vom Eschweger Bürgertum oder was sich dafür hielt. Die sind doch nicht von hier: Migranten aus Schlesien, Preußen und schlimmer noch, aus Bayern. Später hat sich mein Vater elegant von den Besuchen der Christmette verabschiedet und mich allein vorgeschickt, um der Familie wenigstens noch nach außen einen Hauch von Christentum zu bewahren. Der Schuss ging ja bekanntlich bei mir nach hinten los. Wenn ich dann nach Hause kam, gab es wie immer Bockwurst mit Kartoffelsalat in der Küche. Vater hatte inzwischen bei dem einen oder anderen Schnäpschen den Baum geschmückt und haufenweise mit Lametta beworfen. Ihm hat Loriot später mit seinem Bonmot „Früher war mehr Lametta“ ein wohl verdientes Denkmal gesetzt. Dann klingelte Vater mit einem Glöckchen und öffnete die Tür zum Heiligtum. Keiner wagte es, den Raum zu betreten, bevor nicht Oma mit zitternder Stimme „Ihr Kinderlein, kommet“ angestimmt hatte. Der dauerpubertierende Sohn leierte zum 100. Mal „Draußen vom Walde komm ich her“ runter, nahm seine Geschenke mit einer routinierten Mischung aus Freude und Enttäuschung zur Kenntnis, zog sich mit einem Buch zurück und freute sich auf den Gänsebraten am kommenden Tag. 

Berlin-Tiergarten, die Jahre nach 1968. Große Altbauwohnung mit Postern von Karl Marx und Che Guevara. An der Decke ein wagenradgroßer Adventskranz und dazu eine Nordmanntanne mit einer Höhe von 3,50 Metern, natürlich geschmückt mit teuren Schnitzereien aus dem Erzgebirge. Kein Lametta mehr, wir sind ja 68er, aber Ulrich im dunklen Anzug, Monika im roten Mini, dazwischen das strahlende Musterkind. Sieh her Berlin, wir sind angekommen. Weihnachten bei Graf Koks. Noch Mahalia Jackson mit „Silent Night“ aufgelegt und dann aber schnell Geschenke auspacken. Am Ende der Orgie blieb ein Berg Papier übrig, mit dem wir auch eine Tonne der Stadtreinigung hätten füllen können. Wars trotzdem schön? Ich weiß nicht. Unsere Weihnachten gefielen mir erst besser, als mein Sohn meinte, wir sollten das mit dem Baum und dem ganzen Brimborium drumherum vielleicht besser lassen. Vernünftiger Junge, heute natürlich in der IT-Branche.

Berlin-Tiergarten 2017. Ich habe einen Mistelzweig an meiner Wohnungstür angebracht. Fragt mich nicht warum. Vielleicht nur, damit sich der Eine oder Andere im Haus Gedanken über den ewig mürrischen Alten macht. Damit kann ich sie wunderbar ärgern. Jetzt müssen sie mich wieder grüßen. Habe immer noch keine Weihnachtsgeschenke. Wie üblich. Die Enkel wollen Geld oder Gutscheine. Keiner liest mehr schöne Bücher, keiner hört mehr anspruchsvolle Musik. Bitcoins, das wärs wohl für die Kids von heute. Aber es gibt auch noch das old school Weihnachten. Mein Sohn hat seinen alten Vater samt Enkel am 1. Feiertag zum Essen eingeladen und Elke, die Mutter aller Weihnachten, erwartet mich Heilig Abend am Kamin und Tannenbaum im beschaulichen Neukölln. So geht betreutes Weihnachten heute. 

Und demnächst? Heiligabend im Altersheim. Der alte 68er in Zimmer 68. Die Glotze ist aus, kein Fußball heute. Warum eigentlich nicht? An keinem Abend wäre er wichtiger. Von unten klingen Weihnachtslieder. Der Chor des Müttergenesungswerks singt mit brüchigen Stimmen „Stille Nacht, heilige Nacht“. Die alten Damen des Heims umkreisen dazu mit ihren Rollatoren den Tannenbaum. Die Tür geht auf, die stämmige Ludmilla aus der Ukraine kommt herein: „Herr Kubitz, wollen nicht runterkommen, Frau Merkel hat schon gefragt nach Ihnen.“ Die hat mir gerade noch gefehlt. Ich zeige bei mir auf da untenrum. Ludmilla entsetzt: „Ach nee, Opa, nicht schon wieder! Heute ist doch Weihnachten.“ Aber dann ist sie doch wieder meine Lieblingspflegerin, brutal und zärtlich zugleich. Sie weiß, was ich brauche. Dann habe ich wieder frische Windeln, strecke mich genüsslich aus und falte meine Hände über der Brust. Ludmilla geht und ich liege da wie der feuchte Traum eines Bestatters. Ob morgen Besuch kommt? Wahrscheinlich wieder nicht. Aber eine wird mit Sicherheit kommen. Ach Ludmilla.

Ja, Jungs, so oder so ähnlich waren meine Weihnachten oder werden sie sein. Ihr mögt mich für einen ausgemachten Weihnachtsmuffel halten. Damit kann ich gut leben. Alles besser als so zu werden wie Tante Milla in Heinrich Bölls herrlicher Satire „Nicht nur zur Weihnachtszeit.“ Solltet ihr euch unbedingt auf You Tube ansehen. Die hat Böll zum ersten Mal 1952 bei der Gruppe 47 auf Schloss Berlepsch vorgelesen. Ihr seht, ein bisschen Eschwege geht immer. 

Jungs, wie gehts weiter mit uns? Ein französischer Chirurg hat einmal gesagt: „Gesundheit ist das Schweigen der Organe“. In diesem Sinne wünsche ich euch eine wirklich „Stille Nacht“.

Ulrich

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