Lieber Fritz, lieber Reinhold,
das ist neu für euch: ein Lebenszeichen von mir gleichzeitig für zwei Kumpels. Das gab es früher nicht. Ich rede nicht drumherum, ich werde immer mehr zu einem Wiedergänger von „Oblomow“ (Iwan Gontscharow) und „Bartleby, der Schreiber“ (Herman Melville). Stefan Zweig schrieb in seiner Rezension über Oblomow: „Der Held ist träge – das ist alles. Er verschläft den halben Tag, geht nicht mehr aus, bricht jeden Verkehr ab und verliert nach und nach jedes Interesse an der Außenwelt. Die Trägheit hat ihn ganz in ihrer Gewalt und gibt ihn nur dem Tode frei.“
Bartleby ist berühmt geworden für seinen Spruch „Ich möchte lieber nicht“, mit dem er jeden Auftrag seines Chefs beantwortete. Der hat das lange toleriert. Dumm nur, dass der neue Chef ihn ins Gefängnis werfen ließ. Dort verweigerte er konsequent Nahrung und Kommunikation. Er wollte lieber nicht. Sein Ende könnt ihr euch vorstellen.
Was verbindet mich mit den beiden Romangestalten? Meine Mutter wusste es schon ganz früh. Sie hat mir in meiner Pubertät prophezeit, einmal als Eremit zu enden. So ist es gekommen. Kluge Frau. Und den Bartleby in mir erkennt ihr auch in dem Schuljungen im „Stadtneurotiker“ von Woody Allen. Seine Mutter geht mit ihm zum Arzt, weil er sich auf einmal weigert, Hausaufgaben zu machen. Das Universum dehne sich aus und werde irgendwann auseinanderbrechen, sagt er. Wozu dann noch Hausaufgaben? Darauf seine Mutter ärgerlich: „Wir sind hier in Brooklyn und Brooklyn dehnt sich nicht aus.“ Jungs, seid ihr sicher, dass das in Berlin-Moabit genauso ist? Na also!
Ich sehe euch den Kopf schütteln. Was ist denn auf einmal mit dem Typen los? Hat Hertha verloren oder war sein Rotwein gepanscht? So kennen wir ihn garnicht. Gut, in der Schule war er nicht gerade die hellste Kerze auf der Torte und auf der Forstgasse haben die Mädels auch nicht hinter ihm hergepfiffen. Stimmt ja alles. Aber mal ehrlich, wenn ich mich entscheiden müsste, wer ich sein will, warum sollte ich mich für mich entscheiden? Die 500 000 Euro Frage. Ich brauche den Telefonjoker. Aber der geht nicht ran. Wahrscheinlich schaut er sich gerade wieder Katzenvideos an. So läuft das bei mir schon seit Jahren.
Jetzt aber Schluss mit Selbstbespiegelung. Graut euch nicht schon vor Weihnachten und dem ganzen Rummel drumherum? Gut, ihr seid nicht so geschädigt wie ich. Meine Pflichtbesuche an Heiligabend in der Marktkirche sollten eben nur davon ablenken, dass der Herr Landrat nicht hinter dem Altar stand und mit einem Glöckchen bimmelte. Er war zu der Zeit nämlich damit beschäftigt, zuhause kiloweise Lametta über den armen Tannenbaum aus dem Schlierbach zu werfen. Genau das war es, was Loriot später inspirierte, über „früher war mehr Lametta“ zu jammern.
Bei mir war mit Lametta Feierabend, als mein pubertärer Sohn auf seinem neuen Computer einen grünen Tannenbaum programmiert hatte. „Toll, mein Junge“ lobte der stolze Vater. „Jetzt drück doch mal die Taste da, nee die andere. Mensch, Alter!“ Ich schaffe das tatsächlich und was soll ich euch sagen – plötzlich leuchteten auf dem Baum ein paar Dutzend Kerzen. Nicht schlecht, aber meine Gene waren das nicht. Die zwingen mich eher dazu, Heiligabend mit Gutscheinen um mich werfend den Wünschen meiner Enkel gerecht zu werden.
Wollt ihr noch wissen, wie ich meinen heroischen Kampf gegen den Kapitalismus, Politiker aller Couleur, Religionen mit und ohne Kopftuch, Immobilienhaie und Bayern München plane? Nein, wollt ihr nicht. Ist auch besser so. „Ein Teil dieser Antworten würde euch verunsichern.“ (Thomas de Maiziere)
Machts gut, Jungs. Ich trinke jetzt noch einen steifen Grog und pflege meine Neurosen.
Ulrich