#10

Hallo Fritz, hallo Reinhold, hallo Fans,

Neues vom alten weißen Mann aus dem Wartezimmer im Nierenzentrum Berlin: Meine gestrenge Onkologin war mit meinen Laborwerten gar nicht zufrieden und scheuchte mich zum Nephrologen. Ich natürlich gleich mal auf Hypochonder.de. Da kamen natürlich sofort Erinnerungen an meinen Bruder (32) in der Dialyse hoch. Doch zu meiner großen Erleichterung gab der Doktor Entwarnung. Glück für mich, Pech für euch. Jetzt müsst ihr mich doch noch eine Weile ertragen.

In Berlin tobt gerade eine Impfdebatte. Das erinnert mich an den Rat meiner Onkologin, alle Impfungen aus meiner Kindheit noch einmal zu wiederholen. Die Chemotherapie war so gründlich, dass sie mich auf den Stand eines Babys zurück- geworfen hatte. Jeder Schnupfen hätte mich umhauen können. Und ihr werdet staunen, das Weichei Bartleby sagte diesmal nicht „ich möchte lieber nicht“. Mit Todesverachtung sah er der resoluten Schwester in die Augen, die mit einem Arm voller Spritzen vor ihm stand. Masern, Diphterie, Kinderlähmung, Tollwut usw., das volle Programm. Jetzt bin ich das älteste immune Baby in Berlin.

In unserem esoterischen Bezirk Prenzlauer Berg sehen viele das anders. Die Helikoptereltern mit schwäbischem Migrationshintergrund montieren zwar den teuersten Kindersitz in den SUV, aber ihre Kids lassen sie nicht impfen. Lieber Globuli und Bachblütentee. Ein Kinderarzt in Prenzelberg hat darauf genial reagiert. In seinem Wartezimmer hängt ein Schild: „Sie müssen ihre Kinder nicht impfen lassen – nur die, die Sie behalten wollen“. Guter Mann.

Weil es passt, nochmal Kinder. Bartleby hat gelesen, dass eine Kita in Schleswig- Holstein es den Kids untersagt hat, zum Fasching als Indianer zu kommen. Das erinnert ihn an seine Zeit im anti-autoritären Kinderladen „Kinderkollektiv 70 eV.“ Mein Sohn (hallo Tassilo!) wollte unbedingt als Cowboy gehen. Die Mehrheit der Eltern meinte, er könne ja auch als Albert Schweitzer gehen. Monika und ich erreichten einen Kompromiss: Er ging dann doch als Cowboy mit seinen Pistolen, durfte allerdings damit nicht schießen, sondern immer nur „Peng! Peng!“ rufen. Ein John Wayne light. Kurze Zeit später war er für ein paar Tage bei seiner Oma in Hessen. Natürlich ging sie mit ihm in einen Spielzeugladen. „Such dir was aus, Junge.“ Der Junge sah sich nur kurz um und entschied sich für – na? – einen feuerspuckenden Panzer. Oma registrierte es mit Sympathie.

Fasching in der Nachkriegszeit in Berchtesgaden. Mein kleiner Bruder und ich wollten als Indianer gehen. Aber es gab im Ort keine Federn für unseren Kopfschmuck. Auf der Alm lebten halt nur Kühe, aber leider keine Hühner. Mutter entschied, ihr geht als Scheichs. „Die sind reich und haben viel Sand.“ Das hat uns überzeugt. Mutter, patente Frau aus Potsdam (hallo Elke!) nähte uns zwei Kostüme aus Bettlaken (s. Anhang). Die Seppls waren irritiert und wollten immer wissen, was unser Kostüm bedeutet. „Wir sind Scheichs, wir sind reich und ihr nicht.“ Dann mussten wir aber schnell laufen.

Fridays for Future. Erinnert mich an eine Schüler-Demo in den 70ern. Tausende SchülerInnen zogen gegen die Schulpolitik des Senats über den Kudamm und skandierten: „Bei der Rüstung seid ihr fix, für die Schulen tut ihr nix!“ Mitten drin mein Sohn. Der 68er-Vater platzte fast vor Stolz.

Reinhold, Fritz, wofür wären wir damals auf die Straße gegangen und hätten den Unterricht geschwänzt? Mir fällt nichts ein. Was wäre denn da ausgefallen? Religion bei Löckchen, Musik bei Veilchen und Geräteturnen bei Trümpler. Oder doch: Zusammenschluss mit der Leuchtbergschule (Lyzeum). Wenn ich mich schon nicht zu den Mädels traue, dann müssen sie eben zu mir kommen. Das Aufregendste, das ich mir damals mit ihnen vorstellen konnte war, sie dann an den Zöpfen ziehen zu können (sorry Greta!). Wir waren in Biologie einfach noch nicht so weit.

Unser bigotter Direx hatte ein Einsehen mit den Leiden des jungen Werther und verstieß ihn auf die Waldorfschule in Kassel. Als Junge mit Werra-Meißner- Migrationshintergrund wurde ich gleich neben ein Mädchen gesetzt (Mathe 1), und das nach 12 Jahren Besuch von reinen Jungsschulen. Ein Kulturschock für den Dietemann! Es war so, als würdest du einen Veganer plötzlich neben ein Wiener Schnitzel setzen. Wir haben uns erst den Teller und dann auch mehr geteilt. Ach Inge! Wer heißt denn heute noch Inge? Kennst du eine, Chantal? Nöö.

Für die Nicht-Berliner unter euch noch zwei Kostproben für den Mietenwahnsinn in der Hauptstadt der Versager. Staffelmiete in Prenzlauer Berg von heute 2.400 Euro bis 6.716 Euro in 2036 und in Mitte von heute 2.400 Euro bis 8.170 Euro in 2035. Ich wohne in Mitte. Wenn es hart auf hart kommt, hat noch jemand eine kleine Wäschekammer für mich? Bringe auch den Müll runter.

Übrigens, Wessis, seht euch vor, BVG is watching you. Bus 245. Langes Fahrzeug voller Fahrgäste. Ruhe. Plötzlich Durchsage des Fahrers: „Könnten Sie bitte ganz hinten nach dem Trinken wieder den Deckel auf die Flasche machen? Danke.“ Ich hoffe, das galt keinem von euch. Die Sau könnt ihr bei euch zu Hause rauslassen.

So, Leute, jetzt seid ihr erst mal wieder auf dem Laufenden. Trotz alledem, macht euch keine Sorgen um Bartleby. Er hält es im Rückblick mit seinem Idol Georg Schramm: „Nüchtern betrachtet war es betrunken besser.“ Und nicht vergessen: nie waren wir so alt wie heute.

Ulrich alias Bartleby

#09

Hallo Jungs, hallo Fans,

ich mache meine Drohung vom letzten Mal wahr und komme euch heute auch mal politisch. Ihr müsst jetzt ganz tapfer sein. Hier kommt das Neueste aus dem „nicht funktionierenden Teil Deutschlands“ (Boris Palmer, OB Tübingen). In wenigen Tagen beginnt hier das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Erinnert ihr euch noch an die Schule, als in Sozialkunde ein paar Minuten, wenn überhaupt, für Artikel 14 GG verwandt wurden. „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig.“ Großes Erstaunen heute allüberall: Was, das steht da wirklich? Das muss ein Irrtum sein. Als betroffener Teil der Allgemeinheit sage ich euch, das ist kein Irrtum. Ihr Investoren aus Russland, China, Saudi-Arabien, Luxemburg und Deutsche Wohnen, zieht euch warm an. Der Geist von 1968 ist in dieser Stadt noch am Leben. Ich halte euch auf dem Laufenden bis ich aus meiner Wohnung rausgeekelt werde. In Bayern gab es jetzt ein erfolgreiches Volksbegehren für den Schutz von Bienen und Insekten. Find ich gut. Aber was hat den Chefredakteur der „Titanic“ geritten, wenn er das so kommentiert: „Ich freu mich immer so, wenn ein Insekt gegen die Windschutzscheibe klatscht, weil dann ist es ja vielleicht doch nicht so schlimm mit dem Insektensterben.“ Eine Hornisse soll ihn in die Eier stechen. In beide. Ihr kennt doch sicher viele Vorschläge zum Weltkulturerbe. Na klar, der Kölner Dom, die Wartburg und Sanssouci sind schon dabei. Ihr könnt auch gerne eigene Vorschläge machen. Einer hat mich sehr nachdenklich gemacht. Er kommt von der wunderbaren Mely Kiyak, von mir schon lange verehrte Publizistin auf ZEIT-Online. Angesichts unseres Umgangs mit Flüchtlingen schlägt sie als Weltkulturerbe keinen neuen Dom vor, sondern statt dessen: Ertrinken lassen im Mittelmeer. Das ist hart, aber besteht unsere Kultur wirklich nur aus historischen Gebäuden? Denkt darüber nach. Ihr glaubt es nicht, aber in meiner Zeit als Allianz-Betriebsrat wurde ich zum „Frauenbeauftragten“ gewählt. Ich. Als Mann. Von einer weiblichen Mehrheit. Bis heute rätsele ich, ob das ein Kompliment oder die Höchststrafe war. Als NeuFeminist habe ich mir auch Gedanken über die aktuelle Me-too-Debatte gemacht. Ergebnis: Gut, dass es die zu meinen Marburger Zeiten noch nicht gegeben hat. In meiner Korporation herrschten seit Kaisers Zeiten strenge Regeln: Kein Sex „intra Muros“. Für Leute ohne großes Latinum: Damit war ursprünglich die Stadtmauer Marburgs gemeint. Zu meiner Zeit wurde das Verbot dann auf die Mauern unseres Hauses beschränkt. Ich erinnere mich an eine wilde Faschingsfete. Als Frauenbeauftragter hatte ich alle einsamen Krankenschwestern der umliegenden Kliniken aufs Haus eingeladen und mich als jugendlichen Robert Redford verkleidet. Die Schwester behandelte mich wie einen Privatpatienten. Ewiges Gefummel oder wie ihr heute sagt, learning by doing. Aber bevor es zum Äußersten kommen konnte, mussten wir beide feststellen, dass wir noch Jungfrauen waren. Da habe ich mich gerade noch rechtzeitig an das kaiserliche Verbot erinnert. Andernfalls hätten mich meine Bundesbrüder geteert und gefedert nackt durch die Marburger Altstadt getrieben. Kein schöner Anblick. Die Krankenschwestern hätten am Straßenrand gestanden und mich mit gefüllten Bettpfannen beworfen. Marburg war schon lange vor der Me-too-Debatte ein gefährliches Pflaster. Du konntest die Uni besuchen oder was fürs Leben lernen. Manchmal sogar beides. Hier etwas Wichtiges für die Nicht-Berliner unter euch. Solltet ihr einmal den Mut aufbringen und in unsere verrückte Stadt kommen, keine Angst: An der Stadtgrenze zu Berlin gibt es keine Volkpolizisten mehr. Statt dessen patroullieren dort jetzt Wildschweine. Mit eurem Gewehr dürft ihr in der Stadt nicht auf sie schießen. aber mit Pfeil und Bogen schon. Also geht noch einmal in euren Keller und sucht nach den Waffen aus eurer Winnetou und Old Shatterhand-Zeit. Aber wahrscheinlich hauen die Wildschweine schon ab, sobald sie euch als Westdeutsche erkennen. Wenn ihr euch nach dem Schreck wieder aus dem KaDeWe raus traut und im 100er oder 200er-Bus durch die Stadt kurvt, wollt ihr ja nicht als Touris aus KleinKleckersdorf erkannt werden. Da hilft es euch wenigstens, wenn ihr wisst, was echte Berliner nie sagen (danke Tagesspiegel): „Kann ich so rausgehen?“ „Deine Schuhe sind dreckig.“ „Bitte nach Ihnen.“ „Die S-Bahn kommt.“ „Es ist noch rot!“ „Frühstück gibts nur bis 10.“ „Ich hab die Wohnung in Kreuzberg bekommen.“ „Links gehen, rechts stehen!“ „Danke. Bitte. Entschuldigung.“ Werner Schneyder ist tot. Er war ein Idol für mich: Kabarettist mit und ohne Dieter Hildebrandt, Schriftsteller, Sportmoderator und Ringrichter im Boxring. Er nannte sich einmal „Universaldilettant“. Darum habe ich ihn beneidet. Noch heute setze ich einen Aphorismus von ihm in meinen Auseinandersetzungen mit dämlichen Berlinern ein: „Versuchen Sie es einmal mit Intelligenz. Es tut nicht ganz so weh wie sie vielleicht vermuten.“ Danach herrscht meist Stille. In einem Nachruf lese ich, dass er an seinem 40. Geburtstag gesagt hatte: „Bis 80 ist Pflicht, der Rest ist Kür.“ Jetzt starb er mit 82 Jahren. Mal sehen, wie lange meine Kür noch dauert. Für heute verabschiede ich mich mit einer Kabarett-Größe vom Niederrhein. Hans-Dieter Hüsch: „Es ist ja nichts Besonderes, in der heutigen Zeit zu allem fähig zu sein. Dann lieber zu allem unfähig.“ Jetzt müsst ihr euch entscheiden. Euer Bartleby.