Hallo Freunde, hallo Fans,
nicht böse sein, aber heute komme ich euch ausnahmsweise erst einmal literarisch. Der Grund: Herman Melville wäre in diesen Tagen 200 Jahre alt geworden. Berühmt geworden durch „Moby Dick“ und als Schöpfer des großen Verweigerers Bartleby. Ich zitiere mal aus dem Kulturteil des Tagesspiegels:
„Bartleby ist die Gegenfigur zum Willenskrampfmenschen Ahab. Er möchte lieber kein menschliches Kopiergerät sein; eigentlich möchte er überhaupt nichts und bleibt dabei doch unverbindlich freundlich. Die sanftmütige Aufsässigkeit eines Menschen ohne Ambition ist eine Irritation für die Wachstumsgesellschaft, die zusammengehalten wird vom Ehrgeiz und dem Willensdrang ihrer Mitglieder.“ Vielleicht macht es das für euch jetzt etwas einfacher mit mir.
Zurück ins Hier und Jetzt: In das neue Dachgeschoß sind Nele und Sally eingezogen. Im Briefkasten lag eine Einladung zum Kennenlernen bei Kaffee und Kuchen. Das hat Bartleby noch nicht erlebt in den mehr als 50 Jahren, die er hier wohnt. Er vergisst einmal sein notorisches „Ich möchte lieber nicht“, macht sich chic (!) und stiefelt nach oben. Die Mädels werden bestimmt traurig in ihren Kaffee weinen, weil keiner gekommen ist. Und dann das: Der Hausälteste wird von einer johlenden Menge begrüßt. Das letzte Mal, dass er mit so vielen Menschen aus seinem Haus zusammen kam, war 1943 im Luftschutzkeller in Lankwitz. Eine Einladung dazu gab es damals nicht und das gemeinsame Beten war schnell zu Ende. Es war für den jungen Bartleby die letzte Nacht im brennenden Berlin bis 1965.
Wenn jemand mal aus Versehen meine Telefonnummer gewählt hat, ist die erste Frage meist: „Wie geht’s dir?“ Statt des üblichen „Den Umständen entsprechend“ hier kurz eine kleine Geschichte: Bartleby hat mal wieder mit seinen Einkäufen die Marktfrauen auf dem Ökomarkt glücklich gemacht. Im Bahnhof Zoo warten auf die U-Bahn. Sie kommt und ist natürlich voll. Bartleby strafft seinen Körper, pumpt den Rest seiner Muskeln auf und stürmt das Abteil als wäre er in Tokio. Die Kids starren auf ihre Smartphones. Keine Chance auf einen Sitzplatz. Aber dann das: Ein älterer Herr, so um die 70, steht auf und bietet Bartleby seinen Platz an. Was ist denn hier los? Sehe ich denn wirklich schon so schlimm aus? Leute, wie wärs zu meinem Geburtstag mal mit Botox?
Bartleby wäre heute beinahe Opfer einer Naturkatastrophe geworden. Wird in der S-Bahn von einem Unwetter überrascht. Es regnet Katzen und Hunde, dazu Blitz und Donner. Am Bahnhof Tiergarten stauen sich die Menschen, nicht an den Zügen, sondern am Ausgang. Die Straße steht fast kniehoch unter Wasser und die Autofahrer pflügen lustvoll durch die Fluten. Ihre Wellen schwappen bis in den Bahnhof. Erst wartet die Menge geduldig auf ein Ende der Sturzflut, wird langsam unruhig und stürzt sich dann wie Lemminge ins Wasser. Bartleby möchte das lieber nicht und beobachtet das Treiben fast zwei Stunden lang auf dem Trockenen. Unglaublich, was Menschen anstellen, um bei diesen Verhältnissen über die Straße zu kommen. Touristen aus Monsunländern stürzen sich ohne Rücksicht auf Kinder und Klamotten in die Fluten, die Deutschen ziehen ihre Schuhe aus, krempeln ihre Hosen hoch und waten tollpatschig wie Pinguine durchs Wasser, aber nicht ohne vorher vorschriftsmäßig den Knopf an der Ampel für Grün zu drücken. Eine herrliche Komödie wie eine Inszenierung von Herbert Fritsch an der Volksbühne.
Bartleby liest gerade davon, dass eine junge Frau aus Brandenburg am Watzmann abgestürzt ist und lebensgefährlich verletzt wurde. Da kommen wieder Erinnerungen hoch. Genau an der Stelle, an der der junge Bartleby und sein bester Kumpel die drei Watzmann-Gipfel überquert hatten, hin und zurück. Dieses Stück gilt noch heute als eine sehr anspruchsvolle Strecke. Das war 1953. Aber als Kriegskind dachtest du ja, dass du unverwundbar bist. Und so blond wie Siegfried war ich allemal.
Aufgeputscht durch dieses Erfolgserlebnis fühlte sich der preußische Alpinist gerüstet, seiner neuen Flamme ein ganz besonderes Geschenk zu machen. Damals hießen die Mädchen noch nicht Doreen oder Chantal, sondern Rotraut, Wiltraut oder Ingeborg. Meine Flamme hieß Olga und so griffig wie der Name war auch alles an ihr. Die anderen Kumpels dachten, sie könnten bei ihr landen mit einem Sixpack Coca Cola von den Amis, mit Tierbildern für ihr Sanella-Album oder geklauten Keksen aus dem Tante-Emma-Laden.
Doch der junge Bartleby wollte höher hinaus. Also noch einmal hinauf in die Berge und ein Edelweiß für die frühreife Olga aus der steilen Wand gepflückt. Diesmal allein übern Königssee und hinauf ins Steinerne Meer. Almrausch und Enzian in Mengen, aber weit und breit kein Edelweiß. Dann stand er vor der steilen Wand, Da musste es sein, da würde er das Objekt seiner Begierde finden. Aber der liebe Gott hatte kein Edelweiß für den Jungen und befahl, wieder runter mit dir. Wer jemals geklettert ist, weiß, dass runter eine andere Kategorie ist als rauf. Bartleby hing also fest und hätte am liebsten die Bergwacht gerufen, wenn es damals schon Handys gegeben hätte. Fragt ihn nicht wie, aber nach einer gefühlten Ewigkeit zwischen Leben und Tod stand er wieder am Fuß der Wand. Ohne Edelweiß. Mit der letzten Fähre zurück übern See und sofort todmüde ins Bett. Mutter noch: Warst du wieder mit Olga Kekse klauen?
Fast 50 Jahre später. Bartleby und Elke in der Mongolei. Unser Fahrer hält bei wilden Kamelen. Sie stehen auf einer großen Wiese aus lauter weißen Blumen. Nein, keine Gänseblümchen, sondern alles Edelweiß! Mit Olga wäre das in der Mongolei ein Klacks gewesen. Natürlich steht noch heute ein Edelweiß von dort in meinem Bücherregal. Jeder, der das dort entdeckt und meine bayerische Vergangenheit kennt, klopft mir anerkennend auf die Schulter: „Sag bloß, das hast du selber gepflückt.“ Bartleby: „Na hör mal, was glaubst du denn?“
Wegen Olga ist Bartleby zwar nicht abgestürzt, aber beinahe ertrunken. Und das kam so: Unsere Clique lag an einem schönen Sommertag in einem Freibad. Alle konnten schon schwimmen bis auf mich, am besten aber Olga. Die Idee mit dem Edelweiß hat nicht geklappt, aber irgendetwas musst du jetzt tun, sonst kannst du gleich wieder in den Konfirmandenunterricht gehen. Bartleby, wenn es um Frauen geht, immer tollkühn: Ich springe vom Dreier! Das sagt sich so leicht. Die Stufen hoch ist noch einfach, aber dann stehst du auf dem Brett. Blickst nach unten: das sind doch gefühlte hundert Meter! Du zögerst, aber hinter dir machen schon die nächsten Druck. Bartleby denkt an seine Pleite mit dem Edelweiß, schließt die Augen und lässt sich vom Brett fallen. Olga hat nicht einmal hingeguckt.
Vor ein paar Jahren bin ich auf eine wunderbare Geschichte dazu gestoßen: „Für immer ganz oben“ von meinem Idol David Foster Wallace. Sie handelt von einem Jungen, der an seinem 13. Geburtstag zum ersten Mal im Schwimmbad vor seinen Eltern vom Sprungbrett springen will. Dann der Konflikt, runter oder wieder zurück. Was er dabei beobachtet und ihm dabei alles durch den Kopf geht, ist ganz, ganz große Literatur. Wer für sich was Gutes tun will, findet diese Short Story in Wallace´s Buch „Kurze Interviews mit fiesen Männern“. Ihr werdet lange suchen müssen, ehe ihr etwas Vergleichbares findet.
Zurück nach Berlin. Davon habt ihr sicher gehört: 1918 musste Kaiser Wilhelm II. abdanken und mit seiner Familie nach Holland ins Exil gehen. Jetzt, fanden seine Nachfahren, würde es endlich Zeit, alte Besitztümer wieder vom undankbaren Volk zurückzufordern. Dazu die Schlagzeile einer Berliner Zeitung: „Schon wieder ein Clan, der Ärger macht.“ Araber oder Hohenzollern, dieser Stadt bleibt auch nichts erspart.
Jesper Juul, der sanfte Revolutionär der Erziehung aus Dänemark ist gestorben. Er soll diesmal das letzte Wort haben: „Glücklich zu sein ist keine Kunst. Die wirkliche Kunst ist es, zu wissen, was man tun kann, wenn man unglücklich ist.“