Hallo Historiker.
So viel Historie wie um den Mauerfall in der letzten Zeit war lange nicht mehr. Bartleby hatte schon
immer ein Faible für wahrhaft historische Ereignisse. Zum Beispiel als Junge 1954. Endspiel in
Bern zwischen Deutschland und Ungarn. Aus dem Volksempfänger krächzt Herbert Zimmermann:
„…aus dem Hintergrund Rahn, Rahn müsste schießen, Rahn schießt, TOOOR! Tor für
Deutschland!“ 3:2.

Nach dem Spiel trafen sich die Jungs auf dem Bolzplatz. Jeder wollte Rahn sein. Ich musste ins Tor.
Schon wieder. Mist! Wenigstens mein Vater hat mich richtig eingeschätzt. Er schenkte mir zum
Geburtstag das Buch von Fritz Walter. Mit Autogramm vom Fritz!

1963 Attentat auf Kennedy. Bartleby mit Kumpel auf dem Weg zum Ammersee. Kurz vor
Würzburg im Autoradio die Nachricht. Sofort runter von der Autobahn und zum Hauptbahnhof.
Das müssen wir unbedingt den Würzburgern berichten. Im Bahnhof stand ein amerikanischer
Militärzug. Wir mussten nichts mehr sagen.

1969 Mondlandung. Stundenlanges Ausharren vor dem Schwarz-weiß-Fernseher. Den erst ein paar
Wochen alten Sohn aus seinem Bettchen vor die Glotze geschleppt. Er sollte später auf die Frage,
wo er bei der Mondlandung war, sagen können „Ich war dabei“. Kann heute nicht jeder von den
Baby-Boomern.

1989 auf Sylt. Bartleby „feiert“ dort allein seinen 50. Geburtstag. Im Fernsehen wird berichtet, dass
gerade Erich Honecker zurücktreten musste. Ein Geschenk der SED für den Fluchthelfer? Bartleby
köpft noch eine Flasche Sekt und fragt sich, wo das alles enden soll. Hier:

9.11.1989. Mauerfall. Bartleby sieht zu, wie Schabowski seinen Zettel vorliest. „Sofort.
Unverzüglich.“ Ihm wird sofort, unverzüglich klar, dass seine Potsdamer Cousine morgen auf der
Matte steht. Muss er jetzt etwa noch schnell das Bad putzen? Eigentlich ja, aber dann die Meldung,
dass die Mauer an der Bornholmer Straße geöffnet ist. Mensch, da muss er doch jetzt sofort hin, das
ist ein historischer Moment, verstehste.

Aber leider ist Bartleby auch ein Preuße aus potsdam-schlesischem Blut. Da ist ja noch das blöde
Seminar morgen bei der Allianz. Und das ist noch nicht vorbereitet. Alles wie immer auf den letzten
Drücker. Wer rechnet denn auch damit, dass die Ossis ausgerechnet heute nicht mehr die Füße
stillhalten. Also was jetzt? Seminar sausen lassen und auf zur Bornholmer oder lieber das Seminar
weiter vorbereiten? Weltereignis oder Pflicht? Der Preuße in Bartleby entscheidet sich natürlich für
die Pflicht. Später kann er es nicht fassen.

Die Erklärung für dieses Verhalten findet ihr bei dem Preußen Heinrich von Kleist. Im „Prinz von
Homburg“ hält der Prinz sich nicht an die Order des Kurfürsten. Die lautete, erst anzugreifen, wenn
er das Kommando gibt. Der Prinz macht es trotzdem und gewinnt die Schlacht. Statt als Sieger
gefeiert zu werden, wird er zum Tode verurteilt. In Preußen gilt die Pflichterfüllung mehr als ein
Sieg in einer Schlacht. Davon war der Preuße Bartleby geprägt und hat sich an diesem historischen
Abend auf die Seite des Kurfürsten geschlagen. Das Seminar ist Pflicht, egal, was in der Welt
passiert. Basta! Aber das war auch der Moment, von dem ab sich Bartleby immer mehr vom
Kurfürsten zum Prinzen entwickelt hat.

Jetzt vom alten Preußen ins heutige Berlin. Die Stadt gilt ja als das Mekka der Meckerer. Das ist ein
fruchtbarer Boden für Bartleby. Sich über etwas aufzuregen, sich bei jemandem zu beschweren, das
war für ihn schon immer ein Ersatz für Viagra. Dabei begann alles einmal umgekehrt. Bei der
Allianz musste er die Vorstandsbeschwerden beantworten. Später durfte er die MitarbeiterInnen schulen, die für die
Beschwerden des gemeinen Volks zuständig waren. Beides macht aber auch fit,
sich selbst zu beschweren. Dazu gab es in letzter Zeit reichlich Gelegenheit.

Ob Finanzamt, Stadtreinigung oder Hausverwaltung, sie bekamen alle ihr Fett weg. Merkt euch das:
Bartleby ist ein Aggro-Rentner, auf dem man nicht ungestraft herumtrampeln darf. Ein früherer
Vermieter hat ihn dafür sogar einmal mit einer Abmahnung bestraft. Fuck you! Seine Beschwerden,
die das ganze Haus betreffen, hängt Bartleby immer am Schwarzen Brett aus, obwohl ihm das auch
schon untersagt wurde. Auf einmal grüßen ihn Mieter freundlich, von denen er nicht einmal wußte,
in welchem Stock sie wohnen. Andere fragen, wann er mal wieder etwas ans Brett heftet. Es mache
Spaß, so etwas zu lesen. Vielleicht sollte er mal eine Beschwerde-App entwickeln und damit reich
werden.

Bartleby hat gerade seine Heizkostenabrechnung erhalten. Sein Guthaben beträgt diesmal 819,00
Euro. Neuer Rekord! Wie macht er das? Nein, nicht wie Thilo Sarrazin, der einmal als
Finanzsenator den Berlinern ganz kalt geraten hat: „Wer Heizkosten sparen will, soll sich eben
warm anziehen.“ Das muss Bartleby nicht, denn er stammt in krummer Linie von Termiten ab.
Diese intelligenten Tierchen haben für ihre Bauten ein besonderes System entwickelt. Sie haben es
lange vor dem Menschen geschafft, Hügel zu bauen, die sich selbst belüften, die immer ähnlich
warm und zugleich angenehm feucht bleiben. Wie schaffen die das bloß ohne Sarrazin?

Die Termite Bartleby darf in Berlin natürlich keinen Hügel bauen. Sie behilft sich einfach mit der
Wärme von Glühbirnen und Kerzen, mit etwas Winterspeck und vor allem mit ein paar
steifen Grogs (54%). Wenn irgendwann einmal in der Erdgeschichte Termiten entdeckt werden, die
sich von Grog ernähren, können die Forscher sicher sein, dass das Berliner sind.

In der Zeitung meines Vertrauens lese ich gerade, dass der Schauspieler Ulrich Tukur die Nase voll
hat von seinem Venedig. Zu viele Touristen, zuviel Wasser. Er will umziehen nach Berlin und freut
sich auf „eine heruntergekommene alte Wohnung mit Kohleöfen und Toilette im Treppenhaus in
Schöneberg“. Mit seiner Wunschwohnung könnte ich ihm, bis auf die Kohleöfen, locker dienen,
sogar mit Toilette im hinteren Treppenhaus. Die wurde mal 1912 nur für die Dienstmädchen der
Herrschaften eingerichtet und funktioniert heute noch. Bartleby muss gestehen, er habe gar nicht so
genau darauf geachtet, wo eigentlich seine Dienstmädchen immer ihr Geschäft verrichtet haben.

Hier nochmal ein Schmankerl von der BVG. Durchsage im U-Bahnhof: „Verspätung wegen ein-
und aussteigender Fahrgäste“. Bartleby kennt das. Wie oft musste er nicht schon in der Bahn
lahmarschige Touris in den Hintern treten: „Hey, Alter, wir sind hier nicht auf dem Dorf!“ Dann
wird der Bauer rot und freut sich wieder auf seinen Kuhstall. Aber die Kühe auch auf ihn? Man
weiß es nicht.

Der Soziologe Harald Welzer kommentiert solche Situationen so: „Berlin ist für mich eine milde
Form der psychischen Störung.“ Mensch Welzer, was heißt denn hier „mild“? Leb du erst mal wie
Bartleby über 50 Jahre in der Heilanstalt Berlin. Wenn du dabei nicht psychisch schwer gestört
wirst, wird aus dir nie ein echter Berliner.

Habe gerade ein Interview mit Hans-Christian Ströbele gelesen. Ihr wisst schon (oder auch nicht),
der große alte Mann der Berliner Grünen. Frage: „Haben Sie schon einmal einen Abend mit einem
Flüchtling verbracht?“ Antwort: „Ja, bereits 1946.“ Hätte auch meine Antwort sein können. Denkt
drüber nach.

Bis bald.

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