Stolpersteine EXTRA

Guten Tag, Nachbarn: Schön, dass Sie da sind. Lassen Sie mich bitte kurz erklären, warum ich für diese Stolpersteine gespendet habe. Heute, zwei Tage nachHanau, bin ich mir nicht mehr sicher, ob das meine letzte Spende gewesen sein kann.

Mein Name ist Ulrich Kubitz. Ich bin als Kriegskind in Berlin geboren. Seit mehr als 55 Jahren wohne ich in diesem Haus. Als ich als junger Student hier einzog, glich meine Wohnung noch einem Loch voller Kriegsschäden. Ich habe sie bis heute nicht vollständig beseitigen lassen. Sie sollten sichtbar bleiben. Ein stolzes Haus wie dieses sollte seine Wunden zeigen dürfen. 

Sie können sich ihre Wohnung noch so schön einrichten und sich darin wohlfühlen, die Kriegsschäden bleiben eine sichtbare Mahnung. Wer hat hier vor mir gewohnt, was waren das für Menschen, die in dieser Wohnung genauso gern gelebt haben wie ich? Wie war das für sie damals, als sie sehen mussten, wie sich immer mehr Juden da drüben in der Synagoge an der Levetzowstraße melden mussten? Wie war das für sie, als eines Tages SA und SS die Treppen heraufstürmten und an ihre Tür wummerten? Wie war das für sie, als sie nur eine knappe Stunde Zeit hatten, einen einzigen Koffer zu packen? Und wie war das für sie, als ihre Nachbarn ringsherum dabei nur zusahen? Das waren Fragen, die mich all die Jahre nicht losgelassen haben.

Mein Vater war kein kleines Licht in der Nazi-Zeit. Er saß bis 1948 im Militärgefängnis in Nürnberg. Aber ich hatte auch einen Großvater, Rektor, Humanist und Freimaurer. In den Nachkriegsjahren fuhr er mit mir nach Weimar. Zuerst besuchten wir das Goethehaus. Der kleine Junge erstarrte zwar vor Ehrfurcht, hatte aber nichts verstanden. Anschließend zeigte er mir das nahe KZ Buchenwald. Ich erinnerte mich noch an Stacheldraht, Zellen und Baracken. Die schlimmsten Orte hat mir mein Großvater aus gutem Grund erspart. 

Jahre später war ich in Theresienstadt, Sachsenhausen und mehrmals in Buchenwald.  Langsam wurde mir klar, was mein Großvater mir damals an dem Tag in Weimar sagen wollte: Pass auf, mein Junge, auch ein Volk, dass Goethe und Schiller hervorgebracht hat, ist nicht davor gefeit, auch KZ zu betreiben. Merk dir das! Ich habe mir das gemerkt. Heute bin ich selbst Großvater und habe einen Enkel. Ich freue mich, dass er heute dabei ist. 

Die Namen von fünf meiner ehemaligen Nachbarn sind jetzt in Stein gemeißelt. Es waren Menschen wie Sie und ich. Ich möchte ihnen zum Schluss meine Stimme leihen, damit wir ihre Namen noch einmal hören.

Hier wohnten vor mir – und vor uns:

Else Sando-Mirsky – Max Schneider – Ludwig Schneider

Anna Schneider – Marta Schneider

Danke noch einmal an Herrn Demnig, danke an Frau Stippel, und danke Ihnen, dass Sie gekommen sind und mir zugehört haben. Auf Wiedersehen.

Borchardt +++ Allianz +++ Radikal +++ Waschmaschine +++ Relativhemden +++ Gleise +++ U-Bahn +++ Alexa

Heute ein Tipp für alle von euch, die nicht immer nur bei „Curry 36“ oder „Mustafa`s Gemüse Kebap“ am Mehringdamm essen wollen. Ihr kennt doch das „Borchardt“. Das ist das „Berghain“ für alle, die sich mal richtig den Bauch und nicht nur den Arsch vollschlagen lassen wollen. Aber da kriegen wir doch nie einen Platz, höre ich euch jammern. Die lassen doch nur die rein, die zur Haute Volaute (berlinisch für „hautevolée“) gehören. Falsch! Der Manager vom „Borchardt“ hat jetzt verraten, wie auch Kreti und Pleti da reinkommen: „Charme hilft – und ein kurzer Rock ist kein Hindernis.“ Also: Wenn es so einfach ist, her mit der Schere! Bartleby trägt zwar keinen Rock, macht das aber durch seinen Charme und gutes Aussehen wieder wett.

Die Dame mit der Katze hat Bartleby neulich ihren Arbeitsbereich in der neuen Allianz-Zentrale gezeigt. Das Allianz-Urgestein war schockiert. Keine Pflanzen, keine eigenen Bilder an den Wänden und schon gar keine Fototapeten. Er hatte sich damals für einen Südseestrand entschieden. Seine Azubis waren begeistert und ergänzten die Tapete um einige originelle und gewagte Details. Damals kamen gerade Grafittis auf. Die jungen Leute bespannten die Wände mit Packpapier und Bartleby spendierte eine Lage Spraydosen. Er  musste sich anhören, dass seine Azubis doch nur kämen, um sich künstlerisch zu betätigen, aber nicht, um etwas zu lernen. Dass Bartleby beides miteinander vereinbaren wollte, blieb ihnen leider verborgen. 

Deprimierend, wie heute bei der Allianz das Zimmer einer Führungskraft aussieht. Kleiner Tisch mit Computer und ein Stuhl in der Ecke, falls die Putzfrau mal einen Schwächeanfall erleidet. Das Ganze etwa halb so groß wie eine Zelle in der JVA Tegel. Bartleby erinnert sich noch, wie er als Betriebsrat in den 90ern verhindert hat, dass die Räume in den Treptowers nur so groß wie ein Taubenschlag oder Karnickelstall wurden. In seiner Betriebszeitung rief er seine Kollegen dagegen auf mit einem Zitat von Günter Eich: „Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt.“ Das gefiel den Bossen natürlich nicht, brachte ihm aber eine Kandidatur seiner Gewerkschaft ein für einen Sitz im Aufsichtsrat von Allianz Leben. Daraus wurde dann leider nichts. Die große Allianz war noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Von den 68ern lernen, heißt, scheitern lernen.

Was manche von euch schon ahnten: Bartleby ist eigentlich ein verhinderter Journalist. Aber was ihr nicht wisst: Bartleby war sogar einmal (Mit)Herausgeber einer Zeitschrift. Natürlich nicht „Gala“ oder „Apotheken-Rundschau“, sondern von „Radikal“. Das war in den 1980er Jahren das auflagenstärkste und einflussreichste Blatt der Autonomen und galt als Sprachrohr der Hausbesetzerszene. Anspruch des Redaktionskollektivs: „Die 68er Opas haben immer noch nicht begriffen, dass wir nicht für die Öffentlichkeit kämpfen, sondern für ein selbstbestimmtes Leben in allen Bereichen.“

Im bleiernen Herbst der BRD wurden gegen die Zeitschrift 210 Ermittlungsverfahren wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung geführt. Ein Student und ein Journalist wurden festgenommen, weil sie auf der Herausgeberliste standen. Sie wurden zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt, das Urteil erst 1989 durch den Bundesgerichtshof aufgehoben. Wer Bartleby kennt, weiß, dass er bei sowas nicht einfach weiter ruhig in seinen Allianz-Akten blättern konnte. Obwohl 68er Opa, wurde er trotzdem auch Herausgeber von „Radikal“ und wartete nun jeden Tag auf seine Verhaftung. Aber weil wir so viele waren, musste der Staat schließlich aufgeben. „Mit Gefühl und Härte“ hieß es damals auf einem Graffiti in Kreuzberg. Beides hilft auch heute noch.

So, Opa hat genug vom Krieg erzählt. Jetzt geht es um seine Waschmaschine. Die funktioniert schon eine Weile nicht mehr richtig. Wochen? Monate? Jahre? Eine  Dame und ihre Katze beschwören Bartleby, sich doch endlich eine neue zu kaufen. Seine Antwort? Das war leicht: „Ich möchte lieber nicht.“ Aber die wachsamen Algorithmen von Google haben das Drama mitbekommen und schicken ihm per Youtube ein Video vom großartigen Kris Kristofferson: „Sunday morning coming down.“ Stellt euch vor, es ist Sonntag morgen und ihr habt noch einen dicken Kopf vom Vorabend. Disco oder Musikantenstadl, egal. Frühstück kannste vergessen, aber anziehen musst du ja trotzdem irgendwas. Bloß was? Im Kleiderschrank alles grau in grau. Aber Kris Kristofferson hat die Lösung: „I put my cleanest dirty shirt.“ 

Das erinnert Bartleby an seine Studienzeit in Marburg. In seiner Bude gab es natürlich keine Waschmaschine. Viele seiner Bundesbrüder fuhren am Wochenende zu Mutti und ließen sich ihre Wäsche waschen. Aber Bartleby wollte nicht so ein Weichei sein. Er sortierte dafür lieber seine weißen Oberhemden (Couleurzwang) im Schrank von links nach rechts. Das hieß: es gab nur getragene Hemden, aber das ganz links war immer das relativ sauberste. Wir nannten das „Relativhemden“. Danach kam es dann nach ganz rechts. Bis es wieder ganz links landete und dann begann wieder alles von vorne. Irgendwann kamen dann ja die Semesterferien und Mutti. – „Bartleby, ich hab da mal ne Frage.“ – „Ja, mein Kind,“ – „Hast du das mit deiner Unterwäsche genauso gemacht?“ – „Nächste Frage!“

Der Autofreak Bartleby will demnächst seit langem mal wieder mit der Bahn fahren. Das wird ein Abenteuer. Passend dazu ist er gerade auf einen hübschen Tweet gestoßen: Neulich im Zug von Zürich nach Stuttgart kurz nach dem Einsteigen. Fahrgast: „Hat es durchgängig Internet?“ – Schweizer Zugbegleiter: “Wir fahren durch Deutschland. Da können Sie froh sein, wenn es überall Gleise hat.“ Chapeau, diese Schweizer!

Es ist schon ein paar Jahre her, da wollte Bartleby im Bahnhof Zoo in die S-Bahn einstiegen. Konnte er aber nicht, weil man in dem Waggon gerade entdeckt hatte, dass ein Fahrgast inzwischen tot war. Ähnliches ist gerade wieder passiert, allerdings in der U-Bahn in Neukölln. Ein Mann saß tot auf seinem Platz und das wohl schon seit einigen Stationen. Keiner hatte es bemerkt. Der Tote fiel schließlich nur deswegen auf, weil er der Einzige war, der nicht ständig auf ein Smartphone starrte. Bartleby überlegt jetzt, ob er sich nicht doch noch ein Smartphone anschaffen soll.

Alexa, darf ich nicht doch mal was Politisches schreiben?
Vergiss es!
Auch nicht über Windräder?
Auch nicht! Die dürfen nun mal nicht zu nah an Häusern stehen. Die Menschen dort wollen das nicht.
Aber wenn sie ihre Häuser und ganze Dörfer dem Braunkohletagebau opfern müssen,  wollen sie das doch auch nicht.
Das ist doch wieder etwas ganz anderes.
Und wenn die Menschen statt dessen doch lieber Windräder hätten und dafür ihre Häuser behalten dürften?
Wie sagte schon der große Politiker Roy Black so richtig: „Du kannst nicht alles haben!“

Alexas Akkus sind gerade leer, deshalb schnell doch noch was Politisches: In Thüringen schmeißt die Vorsitzende der Linkenfraktion einem Nazi-Sympatisanten einen Blumenstrauß vor die Füße und im amerikanischen Kongress zerreißt Nancy Pelosi von den Demokraten das Redemanuskript von Donald Trump vor laufenden Kameras in Fetzen. Hallo Männer, wieso sind es immer nur Frauen, die zu solch starken Gesten fähig sind?