Wie geht’s Bartleby? So wie Manfred Maurenbrecher, ein Musiker, den wahrscheinlich nur die 68er unter euch kennen. Für den alten Bartleby ist er ein Bruder im Geiste: „So die eigene Zeit durchkraucht, sieben Leben lang, sechs sind demnächst aufgebraucht, eins hängt noch im Schrank. Alles gut, der Rest ist Mut.“ 

Bartleby wollte euch einfach nur einen Newsletter schreiben, der seinen Alltag in diesen Zeiten schildert. Daraus wird nichts. Schon sein dritter Entwurf ist im Papierkorb gelandet. Ganz schnell ist er von Masken und Mindestabstand auf  Menschen gekommen, die in Syrien, im Jemen und auf Lesbos schon viel zu lange in elenderen Verhältnissen leben als wir hier. Ja, Hände waschen ist ein guter Rat, aber dazu müsste es wenigstens sauberes Wasser geben. Die kranken Kinder von dort würden hier viele Städte gerne aufnehmen. Aber der Seehofer von einer Partei, die sich „christlich“ nennt, verweist auf die EU und hofft, dass seine Kumpels in Polen, Ungarn und Österreich das dann doch verhindern. A Hund bin i scho, denkt er. Lieber Gott, danke, dass du mich zum Atheisten gemacht hast. Bartleby hört besser an dieser Stelle wieder auf.

„I want you to panic!“ So klang das bittere Fazit von Greta Thunberg zur Klimakrise. Viele haben sie deswegen gescholten. Wer hätte gedacht, dass die grassierende Pandemie jetzt als Vorstufe zum Klimadesaster über uns kommt? Da werden dann auch keine Gesichtsmasken mehr helfen. 

So eine Pandemie und Fußball, was haben die denn miteinander zu tun? Nüscht, werdet ihr vielleicht sagen. Albert Camus war ein begeisterter Fußballtorwart und sieht das ganz anders: „Alles, was ich über Moral und Verpflichtung weiß, verdanke ich dem Fußball.“ Von Jogi Löw, dem viel gescholtenen Bundestrainer, habe ich zur aktuellen Krise diese erstaunlichen Worte gehört: „Die Erde stemmt sich gegen die Menschen.“ Ein Satz, der einem Beckenbauer nie über die Lippen gekommen wäre.

Uns geht es trotz allem so gut, dass wir uns selbst jetzt eine Diskussion über das Abitur leisten können. Trotzdem abhalten, lieber verschieben oder ganz lassen. Bartleby hat sein Abitur traumatisch erlebt. Das Schriftliche war ja schon eine Qual, aber das Mündliche (zwei Tage, acht Fächer!) war der reine Horror. Der Oberschulrat und sein Hofstaat machten meiner Waldorfschule ihre Aufwartung. Wir mussten den hohen Herren zum Einstand ein paar Strophen aus den „Carmina burana“ von Carl Orff vorsingen. Danach die Marter in den einzelnen Fächern. Acht mal.

Ich habe damals die jungen Männer in afrikanischen Dörfern beneidet, denen in einem Initiationsritus nur das Gesicht zerschnitten wird. Das ist ihr Reifezeugnis, Meins ist ein Stück Papier, das mir die Kultusbürokratie im Auftrag eines ominösen Bildungsbürgertums ausgehändigt hat. Wenn Bartleby entscheiden dürfte, weg mit dem sadistischen Abitur. Wenn Lehrer nicht in der Lage sind, nach den letzten vier Semestern die „Reife“ eines jungen Menschen zu beurteilen, gleich auch weg mit ihnen. Es gibt so viele Berufe, in denen sich selbst mittelmäßige Typen wie diese verwirklichen können. „Bartleby, das war aber böse.“ Sollte es auch sein, war schon seit langem fällig. Wieviel Seuchen müssen denn noch kommen, damit dieser Schwachsinn endlich aufhört? Selbst so schreckliche Ereignisse wie dieser Virus bieten auch die Gelegenheit und Chance, längst überholte Regeln zu verändern. Eine meiner Corona-Heldinnen ist Karin Prien, Kultusministerin in Schleswig-Holstein, die versucht hat, das jetzt zu ändern. Der hundertjährige Muff in den anderen Kultusministerien hat das natürlich verhindert. 

Für Bartleby hörte dieses Trauma ja nicht mit dem Abitur auf. Er wurde gleich danach auf den nächsten Initialritus für eine konservative Gesellschaft vorbereitet: Mensuren schlagen. Im Farbenlied seiner Korporation heißt es bis heute: „Und für die Ehre, das kostbare Gut, blitzet der Schläger und spritzet das Blut.“ Nur Glück und Können haben verhindert, dass Bartleby heute nicht so aussieht wie sein Vater, Heydrich, Schreyer und andere Nazigrößen mit einem Gesicht voller Schmisse

Ihr werdet es nicht glauben, aber Bartleby war mal ein Fan von Helmut Kohl. Nicht von dem alten Dicken aus Oggersheim, sondern von dem jungen engagierten Europäer. Was war das für ein tolles Gefühl, in den 60ern mit einem klapprigen 2CV am Schlagbaum vorbei ans Mittelmeer zu fahren. Für Bartleby hätte es überall in Europa so weitergehen können. Statt dessen hat sich Brüssel auf die Normierung von Salatgurken konzentriert. Die Pläne zur Normierung von Särgen liegen bestimmt schon in der Schublade. Hat jemand von euch in diesen Tagen etwas von Flinten-Uschi gehört? Wo bleibt die europäische Task Force, das Bündeln der Besten der Besten, zur Bekämpfung des Virus?

Statt einer mutigen großen Lösung ein Rückfall in die Kleinstaaterei des 18. Jahrhunderts. MeckPomm hat damit angefangen, jetzt macht es der Landkreis Ostprignitz-Ruppin nach: Grenzen zu für Berliner! Nicht nur für Touristen, sondern auch für Leute, die dort ein Ferienhaus besitzen. 

Bartleby fällt dazu eine kleine Geschichte ein. Fontane und Tucholsky fahren zusammen im Auto (Kennzeichen B) zu ihrem Zweitwohnsitz nach Rheinsberg. An der Kreisgrenze werden sie von Vopos, Entschuldigung, von der Polizei gestoppt. „Umdrehen, ihr zwei, aber dalli!“ Tucholsky macht einen zaghaften Versuch: „Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße: das  Ideal der Berliner seit bald hundert Jahren.“ Der Vopo bleibt unbeeindruckt: „In eurem Görlitzer Park kriegt ihr alles, was euch fehlt.“ 

Sollen die Berliner doch ihren 1. Wohnsitz in die Prignitz verlegen, tönt der Landrat. Sein Corona-Virus hält sich natürlich an das Wohnsitz-Prinzip. Mein Vater war selbst Landrat, aber auf so etwas Dämliches wäre er nie gekommen. Sein Kollege aus OPR kämpft jetzt auf meiner nach oben offenen Dumpfbacken-Skala mit Trump, Bolsonaro und noch ein paar anderen um den 1. Platz. Seine Chancen stehen nicht schlecht. 

Ach übrigens, Herr Landrat, in deinem Brandenburg wird darüber gejammert, dass jetzt in euren Krankenhäusern Dutzende von polnischen Ärzten fehlen. Heul doch! Bartleby hat da mal eine Frage: „Fehlten die eigentlich nicht schon eine ganze Weile ihren Patienten in der Heimat, in Polen?“

Zum Schluss doch noch etwas Tröstendes für euch. Denis Scheck ist der Literaturkritiker meines Vertrauens. Er hat es ausgerechnet bei den Peanuts entdeckt: Charlie Brown und Snoopy sitzen auf einem Bootssteg und Charlie Brown sagt: „Eines Tages werden wir alle sterben, Snoopy.“ Worauf der weltweise Beagle erwidert: „Ja, das stimmt. Aber an allen anderen Tagen nicht.“ Bis bald also. 

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