Moritz Rinke +++ Polizei +++ Verbot +++ Intelligenz +++ negativ +++ Lobgesang +++ peinlich +++ Trump +++ Hundenamen +++ Alexa

Bartleby hat in seiner Zeitung etwas Hübsches für euch zu Corona entdeckt. Moritz Rinke, Schriftsteller und Mitglied der Autoren-Fußball-Nationalmannschaft, schreibt über den Besuch bei seiner Mutter in Zeiten wie diesen: 

Den Achtzigsten meiner Mutter habe ich mit ihr alleine gefeiert. Sie lehnte am Fenster, ich stand unten auf der kleinen Straße. Wir mussten sehr laut sprechen, eher schreien.

„Mir wird das jetzt zu doof, ich komme runter!“ sagte sie. „Als ich Kind war und Krieg herrschte, bin ich bei Fliegeralarm auch vor die Tür gegangen!“

„Nein!“, rief ich entsetzt, „du musst oben bleiben. Das hat sogar die Bundeskanzlerin gesagt!“

„Ich sehe doch, dass du nicht krank bist!“ entgegnete sie. „Ich hab´s dir immer angesehen, wenn du krank warst!“

„Beim Fliegeralarm konnte man die Flugzeuge sehen, das Virus sieht man aber nicht! Außerdem müssen wir die exponentielle Robert-Koch-Kurve abflachen!“ 

„Aber nicht an meinem 80. Geburtstag! Komm mir da nicht mit so einer Robert-Koch-Kurve! Ich komme jetzt runter!“

So sind die Frauen meiner Risikogruppe. Wir sind uns früher bestimmt mal auf einer 68er Demo begegnet. Heute halten wir beide das Fähnlein der Alten aufrecht, die andere am liebsten einsperren würden. Darin hat dieses Land ja Erfahrung.

Bartleby musste neulich die Polizei rufen. Richtig gehört: die Polizei. Und das kam so: Der Rentner machte wie immer seinen abendlichen Kontrollgang auf dem Balkon, um zu sehen, ob sich in seinem Kiez alle an die Regeln halten. Und was sehen seine müden Augen da unten auf der Straße? Vor dem Nebenhaus ist ein Bauzaun auf einer Länge von 20 Metern auf die Straße gestürzt und liegt flach auf dem Pflaster, Autos umkurven das Hindernis vorsichtig, aber fahren einfach weiter. Bartleby stellt sich vor, was da alles passieren kann. Zum Beispiel könnte eine hübsche junge Frau mit ihrem Fahrrad über den Zaun stürzen und sich verletzen. Dann würde er sie natürlich sofort in seine Wohnung tragen und ihre Schrammen am Knie und alles andere auch versorgen. 

Aber soweit sich Bartleby auch über die Balkonbrüstung beugt: weit und breit keine hübsche Radfahrerin. Nur alte Damen mit Rollator und Hündchen. Es kommt zum 68er Gau: Er muss die Polizei anrufen! Ein paar Minuten später hält eine Wanne und ihr entsteigen fünf durchtrainierte junge Männer. Sie richten den Zaun wieder auf und verstärken ihn mit Kabelbindern. Der Zugführer dankt dem alten Mann auf seinem Balkon und winkt zum Abschied. Gut, dass das keiner von seinen alten Kumpels von damals gesehen hat. Auf den Schreck braucht Bartleby aber erstmal einen doppelten Jack Daniels. 

Im Tiergarten darfst du jetzt nicht mehr auf einer Bank sitzen und ein Buch lesen. Die älteren jüdischen Mitbürger werden sich erinnern, dass es so ein Verbot schon einmal im sog. Dritten Reich gegeben hat. Damals aber nur für sie. Und in den Zoo durften sie damals auch nicht. Wie schön, dass jetzt die arischen Berliner auch einmal erleben dürfen wie das damals war. Corona machts möglich.

Gibt es nicht auch Hoffnung in dieser Krise? Gibt es. Bartleby hat neulich gelesen, dass ein kluger Mann festgestellt hat: Die Summe der Intelligenz auf dem Planeten ist eine Konstante. Aber die Bevölkerung wächst. Das hört sich nicht gut an. Aber im Umkehrschluss heißt das: Wenn sie wie in Zeiten von Corona sinkt, muss das dann  wirklich ein Drama sein? Ich weiß, so zu denken wie Bartleby ist nicht jedermanns Sache. Deswegen bewegt sich sein Freundeskreis auch immer in engem Rahmen.

Wenn du auf Corona getestet wirst und das Ergebnis ist negativ, schlagen dir alle auf die Schulter. Aber Bartleby hat mit dem Begriff „negativ“ so seine Probleme. Der hängt ihm schon seit seiner Jugend an. Immer wieder wurde er von seiner Umwelt kritisiert: „Sei nicht so negativ!“. Selbst sein kleiner Bruder, den er im Krankenhaus besuchte, bevor er mit 32 Jahren starb, gab ihm noch eine letzte Mahnung mit auf den Weg: „Sag nicht immer nur NEIN“. Bartleby hat lange darüber nachgedacht und sich dann für eine sanfte Variante des NEIN entschieden: „Ich möchte lieber nicht.“ Ich glaube, mein Bruder hätte das noch durchgehen lassen.

„Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen!“ So musste es Bartleby im Konfirmations-unterricht lernen. Heute ist er ja, wie ihr wisst, bekennender Atheist. Aber jetzt muss er doch mal eine Lanze für die Gläubigen in unserem christlichen Abendland brechen. Wegen Corona Gottesdienste zu verbieten, geht gar nicht. Wie kann man Menschen verbieten, ihrem lieben Gott dafür zu danken, dass er ihnen einen Virus geschickt hat, der ihre Eltern und Großeltern dahinrafft? Also öffnet die Türen der Kirchen. Das gilt ab sofort, unverzüglich! Ich möchte den lauten Lobgesang hören und nicht immer nur die kleinen Konzerte von Kreuzberger Balkonen. 

Jetzt haltet euch fest! Bartleby steht neulich morgens an der Kasse bei EDEKA. Mit Maske, Handschuhen und allem Pipapo. Da fällt ihm auf, dass er immer noch seinen Schlafanzug und Latschen anhat. Ist das peinlich! Ist das jetzt schon Demenz? Aber die hübsche Verkäuferin lächelt ihm verführerisch zu. In dem Moment wacht er auf. Es war nur ein Traum. Gottseidank. Aber mal ehrlich: Wer von euch hat das Bartleby zugetraut? 

Bartleby war schon immer ein Fan von Otto Waalkes und Ostfriesenwitzen. So etwas gibt es jetzt auch in Amerika: „US-Bürger kaufen verstärkt Glühbirnen aus Angst vor Stromausfall.“ Trump gefällt das. Endlich mal keine Fake News. Ihr lacht, aber was machen die Deutschen mit Klopapier?

Zum Schluss noch etwas ohne Corona. Bartleby musste neulich lachen. Doch, das kommt vor. Es ging um Hundenamen. Nicht um Waldi oder Hasso. Ein Hertha-Fan ruft seinen Köter immer „Elfmeter!“, Dann steht der sofort auf dem Punkt. Ein Berliner aus Mitte ruft seine Töle immer mit einem lauten „Alexander Platz!“ zur Ordnung. Soll aber nicht nur dort funktionieren. 

Alexa, aber heute darf ich doch mal über was Politisches schreiben, bitte!

Vergiss es, BILD schreibt doch schon ständig über ihren Söder.

Nein, mir geht es um etwas Ernstes.

Was ist denn mit dir passiert?

Alexa, du weißt doch, dass Deutschland bis zu 2 % seines Bruttoinlandprodukts für die Rüstung ausgeben soll?

Weiß ich. Na und?

Wäre es nicht sinnvoller angesichts von Corona, wir würden statt dessen die 2% für eine Grundversorgung in Gesundheit und Pflege ausgeben?

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Hallo Alexa! Bist du noch da?

Stahnsdorf +++ Einkaufen +++ Kondome +++ MHD +++ Care-Pakete +++ systemrelevant +++ Kiezbücherei +++ Günter Netzer +++ Schwarzes Brett +++ Einwandfrei

Bartleby gehört ja zur höchsten Risikogruppe, aber sterben möchte er deswegen nicht. Nicht jetzt, Er hat gehört, dass jetzt an einer Beerdigung höchstens eine Handvoll Menschen teilnehmen darf, wenn überhaupt. Das wäre dann der zweite worst case für Bartleby. Schon seit Jahren liegt auf seinem Schreibtisch eine sorgfältig zusammengestellte Liturgie für die Trauerfeier in Stahnsdorf. Seine Philosophen kommen darin zu Wort, Schriftsteller geben einen kleinen Einblick in sein Leben und Musiker spielen Songs, die ihn geprägt haben. Ein ganzes Leben in 30 Minuten. Ein Jammer, wenn das alles für die Katz gewesen sein sollte.

Bartleby geht jetzt trotzdem zum Entsetzen von Familie und guten Freunden selber einkaufen. Wenn er da so als einer aus der Hochrisikogruppe mit Maske und Handschuhen durch die Regale schlendert, teilt er die Reihen der anderen wie einst Moses das Meer. An der Schlange an der Kasse angekommen, muss er nur zwei, drei Mal husten (in die Maske natürlich) und alle lassen ihn gleich ganz nach vorne. Nie war Einkaufen einfacher.

Zuhause angekommen schockt Bartleby dann die Paketboten. Wenn die aus dem Fahrstuhl treten, sehen sie sich einem mäßig gepflegten Alten mit Bart, Maske und Handschuhen gegenüber. Sie lassen vor Schreck das Paket fallen, verzichten auf Unterschrift und Trinkgeld und retten sich schnell wieder in den Fahrstuhl. Wenn es nicht so viele tragische Fälle gäbe, könnte Bartleby sich direkt mit diesen Situationen anfreunden.

Bartleby ist ja seit den 60ern frankophil. Das begann eigentlich mit einem kräftigen „Merde alors!“ seines Französisch-Lehrers am Gymnasium. Deshalb hat er sich auch nicht darüber gewundert, wie unterschiedlich Deutsche und Franzosen auf die Corona-Krise reagieren: Die Deutschen horten jetzt Nudeln und Klopapier, die Franzosen Rotwein und Kondome. Die Kondome könnte Bartleby jetzt im Regal lassen, den Rotwein aber nicht.

Bartleby will ja nun nicht jeden Tag einkaufen gehen. Kein Leichtsinn! Da gilt es, endlich einmal die eigenen Vorräte zu sichten. Was versteckt sich denn da ganz unten im Kühlschrank? Ein Glas Grünkohl mit MHD 2017. Sieht aber immer noch grün aus. Und hier ein Glas Marmelade mit krakeliger Aufschrift „Erdbeer Rhabarber“. Ja, seine Oma hatte nach dem Krieg an alles gedacht. Sieht aus, als wäre bis auf die Kruste noch alles gut. Wegwerfen? Bartleby möchte lieber nicht.

Bartleby ist ja im Heinrich von Kleistschen Sinne Preuße durch und durch. Woran würdet ihr das merken? Das ist einfach: natürlich daran, dass er alle Einkäufe streng nach Mindesthaltbarkeits-dauer sortiert hat. Das klingt vernünftig, hat aber den Nachteil, dass er seine Mahlzeiten jetzt nach MHD planen muss. Also nicht mehr das, worauf er Appetit hat, wird gekocht, sondern das, was schnell weg muss. Bartleby hat Glück, dass er einen Magen wie ein Pferd hat. Bis jetzt jedenfalls.

Bartleby war ja noch nie ein großer Freund der USA. Aber in diesen Tagen erinnert er sich dankbar an deren Hilfe in den ersten Nachkriegsjahren. Heute weiß er, dass die Amis ihm damals nicht geholfen haben, weil der blonde Junge so schöne blaue Augen hatte, sondern weil sie ihn später noch brauchten für ihren Kampf gegen die „Soffjettunjon“ (Konrad Adenauer). Immer wieder bekam seine Mutter Care-Pakete von entfernten Verwandten aus Michigan. Das Auspacken war ein Fest. Milchpulver, Kakao und Gries für Mutter, das Zeitungspapier, in dem das alles eingewickelt war, für den Jungen. Darin verbargen sich Schätze. Der blasse Junge  hat mit größter Sorgfalt die Werbung der amerikanischen Autoindustrie ausgeschnitten und auf einem Stück Pappe festgeklebt. Cadillac, Buick und Studebaker. Das war sein Spielzeug und damit war er glücklich. Heute stehen bei ihm Dutzende von teuren Burago-Modellen 1:18 rum. Der alte Bartleby kann auch Dekadenz.

Die Frage aller Fragen ist gerade: Wer ist systemrelevant? Bartleby weiß es: die Frauen. Immer wenn Männer dieses Land in die Scheiße geritten haben, schlug die Stunde der Frauen. Das war nach dem 1. Weltkrieg so und das war erst recht nach dem 2. Weltkrieg so. Es waren die Trümmerfrauen, die Berlin wieder aus dem Schutt halfen. Nicht Trümmermänner. Heute sind es Krankenschwestern, Pflegekräfte und Kassiererinnen, die die langjährige Missachtung durch die Männer in Politik und Wirtschaft ausbaden müssen. Bartleby fürchtet, das wird sich nicht ändern.

Es war Bartlebys Mutter, die nach Kriegsende bei den Amis in einer Wäscherei arbeitete und damit ihre Jungen durchbrachte. Den Begriff „systemrelevant“ kannte man damals noch nicht, aber für Mutter traf er zu. Der Sohn hat bis heute nicht vergessen, wie es war, wenn er immer nach der Schule seine erschöpfte Mutter aus der dampfenden Waschküche abgeholt hat. Dann gab es Griesbrei mit Zucker und Zimt und manchmal sogar einen kleinen Klecks Butter obendrauf. Den musste er gegen seinen kleinen Bruder verteidigen. Altruismus war beim jungen Bartleby alles andere als ausgeprägt.

Der Berliner Senat ist ja nicht gerade bekannt dafür, wegweisende Entscheidungen zu treffen. Aber Corona machts möglich: Nur Berlin und Sachsen Anhalt (!) haben es erlaubt, dass bei ihnen die Buchhandlungen auch während der Kontaktsperre geöffnet bleiben dürfen. Söder Markus, liest du nicht? Der Berliner will einfach immer lesen, gleich nach dem Krieg, während der Luftbrücke und nach dem Mauerbau. Was das Bier für den Bayern ist, ist das Buch für den Berliner. Gestern  unterstützte ich meine Kiezbücherei und kaufte einen teuren Wälzer, den ich mir sonst erst später zu meinem Geburtstag geleistet hätte. Als ich ihr das erzählte, bekam die nette Buchhändlerin fast Tränen in die Augen. Bartleby streamt auch Online-Aufführungen der Berliner Theater und spendet dafür. Vielleicht können wir alle zusammen so das Schlimmste verhindern.

Zu seinem Kummer hat Bartlebys Friseur im Kiez geschlossen. Was jetzt? Hermann Görings Friseur, der dem Jungen in Berchtesgaden die Haare geschnitten hatte, lebt nicht mehr. Die muntere Türkin im Salon darf nicht mehr. Bartleby beobachtet einen Wettlauf zwischen seinen Haaren und seinen Fußnägeln. Wer wächst schneller? Bei seinen Fußnägeln könnte eine Gartenschere helfen. Seine Haare könnte er im Notfall zu einem Zopf binden, Karl Lagerfeld für Arme. Oder schulterlang wie damals als 68er. Die Mädels standen drauf, solange er mit ihnen nicht über Politik diskutierte. Wenn ihr also demnächst Bartleby bgegnet und er erinnert euch an Günter Netzer,  dann liegt das an den speziellen Extensions für alte Fußballer.  

Vor einem knappen Jahr war unser Dachgeschoss ausgebaut. Der Rentner lag auf seinem Balkon auf der Lauer, um zu sehen, wer da einzieht. Bestimmt irgendwelche Hipster aus dem Schwabenland, die ihm nun auch noch seinen gehüteten Parkplatz vor dem Haus für ihren SUV streitig machen. Und dann das: Die jungen Leute laden zu einer Einweihungsparty in ihre Dachwohnung ein. Bartleby als Rampensau mit seinen Geschichten als ewiges Kriegskind natürlich sofort im Mittelpunkt. Das hatte er nicht anders erwartet. Was ihn dann doch überrascht und beschämt hat, war vor kurzem ihr Anschlag am Schwarzen Brett: „Liebe Nachbarn, ruft uns an, wenn wir für euch einkaufen sollen. Wir machen das gerne.“ Bartleby wohnt seit 55 Jahren in diesem Haus, aber so etwas hat er noch nie am Schwarzen Brett gelesen. Der alte Mann muss mal wieder an seinen Vorurteilen arbeiten. Wer ihn kennt, weiß, wie schwer ihm das fällt.

Lieber Bartleby, das klang aber heute alles sehr ernst. Zum Schluss bitte doch noch was Lustiges, trotz Corona. Na schön. Bartleby hat neulich einen Witz gehört, der ihn an seine glorreiche Zeit als Seminarguru in der ehemaligen DDR erinnerte. Die aufgebrezelten Damen in ihren weißen Rüschenblusen monierten damals, dass er als Wessi immer alles wie Steffi Graf „super“ findet. Bartleby neugierig: „Was sagt ihr denn statt dessen?“ Ein Chor aus 12 Kehlen: „Einwandfrei“. Und jetzt der Witz: „Was ist ein Haus mit drei Wänden?“ Antwort: „Einwandfrei!“. Verstanden?