Stahnsdorf +++ Einkaufen +++ Kondome +++ MHD +++ Care-Pakete +++ systemrelevant +++ Kiezbücherei +++ Günter Netzer +++ Schwarzes Brett +++ Einwandfrei

Bartleby gehört ja zur höchsten Risikogruppe, aber sterben möchte er deswegen nicht. Nicht jetzt, Er hat gehört, dass jetzt an einer Beerdigung höchstens eine Handvoll Menschen teilnehmen darf, wenn überhaupt. Das wäre dann der zweite worst case für Bartleby. Schon seit Jahren liegt auf seinem Schreibtisch eine sorgfältig zusammengestellte Liturgie für die Trauerfeier in Stahnsdorf. Seine Philosophen kommen darin zu Wort, Schriftsteller geben einen kleinen Einblick in sein Leben und Musiker spielen Songs, die ihn geprägt haben. Ein ganzes Leben in 30 Minuten. Ein Jammer, wenn das alles für die Katz gewesen sein sollte.

Bartleby geht jetzt trotzdem zum Entsetzen von Familie und guten Freunden selber einkaufen. Wenn er da so als einer aus der Hochrisikogruppe mit Maske und Handschuhen durch die Regale schlendert, teilt er die Reihen der anderen wie einst Moses das Meer. An der Schlange an der Kasse angekommen, muss er nur zwei, drei Mal husten (in die Maske natürlich) und alle lassen ihn gleich ganz nach vorne. Nie war Einkaufen einfacher.

Zuhause angekommen schockt Bartleby dann die Paketboten. Wenn die aus dem Fahrstuhl treten, sehen sie sich einem mäßig gepflegten Alten mit Bart, Maske und Handschuhen gegenüber. Sie lassen vor Schreck das Paket fallen, verzichten auf Unterschrift und Trinkgeld und retten sich schnell wieder in den Fahrstuhl. Wenn es nicht so viele tragische Fälle gäbe, könnte Bartleby sich direkt mit diesen Situationen anfreunden.

Bartleby ist ja seit den 60ern frankophil. Das begann eigentlich mit einem kräftigen „Merde alors!“ seines Französisch-Lehrers am Gymnasium. Deshalb hat er sich auch nicht darüber gewundert, wie unterschiedlich Deutsche und Franzosen auf die Corona-Krise reagieren: Die Deutschen horten jetzt Nudeln und Klopapier, die Franzosen Rotwein und Kondome. Die Kondome könnte Bartleby jetzt im Regal lassen, den Rotwein aber nicht.

Bartleby will ja nun nicht jeden Tag einkaufen gehen. Kein Leichtsinn! Da gilt es, endlich einmal die eigenen Vorräte zu sichten. Was versteckt sich denn da ganz unten im Kühlschrank? Ein Glas Grünkohl mit MHD 2017. Sieht aber immer noch grün aus. Und hier ein Glas Marmelade mit krakeliger Aufschrift „Erdbeer Rhabarber“. Ja, seine Oma hatte nach dem Krieg an alles gedacht. Sieht aus, als wäre bis auf die Kruste noch alles gut. Wegwerfen? Bartleby möchte lieber nicht.

Bartleby ist ja im Heinrich von Kleistschen Sinne Preuße durch und durch. Woran würdet ihr das merken? Das ist einfach: natürlich daran, dass er alle Einkäufe streng nach Mindesthaltbarkeits-dauer sortiert hat. Das klingt vernünftig, hat aber den Nachteil, dass er seine Mahlzeiten jetzt nach MHD planen muss. Also nicht mehr das, worauf er Appetit hat, wird gekocht, sondern das, was schnell weg muss. Bartleby hat Glück, dass er einen Magen wie ein Pferd hat. Bis jetzt jedenfalls.

Bartleby war ja noch nie ein großer Freund der USA. Aber in diesen Tagen erinnert er sich dankbar an deren Hilfe in den ersten Nachkriegsjahren. Heute weiß er, dass die Amis ihm damals nicht geholfen haben, weil der blonde Junge so schöne blaue Augen hatte, sondern weil sie ihn später noch brauchten für ihren Kampf gegen die „Soffjettunjon“ (Konrad Adenauer). Immer wieder bekam seine Mutter Care-Pakete von entfernten Verwandten aus Michigan. Das Auspacken war ein Fest. Milchpulver, Kakao und Gries für Mutter, das Zeitungspapier, in dem das alles eingewickelt war, für den Jungen. Darin verbargen sich Schätze. Der blasse Junge  hat mit größter Sorgfalt die Werbung der amerikanischen Autoindustrie ausgeschnitten und auf einem Stück Pappe festgeklebt. Cadillac, Buick und Studebaker. Das war sein Spielzeug und damit war er glücklich. Heute stehen bei ihm Dutzende von teuren Burago-Modellen 1:18 rum. Der alte Bartleby kann auch Dekadenz.

Die Frage aller Fragen ist gerade: Wer ist systemrelevant? Bartleby weiß es: die Frauen. Immer wenn Männer dieses Land in die Scheiße geritten haben, schlug die Stunde der Frauen. Das war nach dem 1. Weltkrieg so und das war erst recht nach dem 2. Weltkrieg so. Es waren die Trümmerfrauen, die Berlin wieder aus dem Schutt halfen. Nicht Trümmermänner. Heute sind es Krankenschwestern, Pflegekräfte und Kassiererinnen, die die langjährige Missachtung durch die Männer in Politik und Wirtschaft ausbaden müssen. Bartleby fürchtet, das wird sich nicht ändern.

Es war Bartlebys Mutter, die nach Kriegsende bei den Amis in einer Wäscherei arbeitete und damit ihre Jungen durchbrachte. Den Begriff „systemrelevant“ kannte man damals noch nicht, aber für Mutter traf er zu. Der Sohn hat bis heute nicht vergessen, wie es war, wenn er immer nach der Schule seine erschöpfte Mutter aus der dampfenden Waschküche abgeholt hat. Dann gab es Griesbrei mit Zucker und Zimt und manchmal sogar einen kleinen Klecks Butter obendrauf. Den musste er gegen seinen kleinen Bruder verteidigen. Altruismus war beim jungen Bartleby alles andere als ausgeprägt.

Der Berliner Senat ist ja nicht gerade bekannt dafür, wegweisende Entscheidungen zu treffen. Aber Corona machts möglich: Nur Berlin und Sachsen Anhalt (!) haben es erlaubt, dass bei ihnen die Buchhandlungen auch während der Kontaktsperre geöffnet bleiben dürfen. Söder Markus, liest du nicht? Der Berliner will einfach immer lesen, gleich nach dem Krieg, während der Luftbrücke und nach dem Mauerbau. Was das Bier für den Bayern ist, ist das Buch für den Berliner. Gestern  unterstützte ich meine Kiezbücherei und kaufte einen teuren Wälzer, den ich mir sonst erst später zu meinem Geburtstag geleistet hätte. Als ich ihr das erzählte, bekam die nette Buchhändlerin fast Tränen in die Augen. Bartleby streamt auch Online-Aufführungen der Berliner Theater und spendet dafür. Vielleicht können wir alle zusammen so das Schlimmste verhindern.

Zu seinem Kummer hat Bartlebys Friseur im Kiez geschlossen. Was jetzt? Hermann Görings Friseur, der dem Jungen in Berchtesgaden die Haare geschnitten hatte, lebt nicht mehr. Die muntere Türkin im Salon darf nicht mehr. Bartleby beobachtet einen Wettlauf zwischen seinen Haaren und seinen Fußnägeln. Wer wächst schneller? Bei seinen Fußnägeln könnte eine Gartenschere helfen. Seine Haare könnte er im Notfall zu einem Zopf binden, Karl Lagerfeld für Arme. Oder schulterlang wie damals als 68er. Die Mädels standen drauf, solange er mit ihnen nicht über Politik diskutierte. Wenn ihr also demnächst Bartleby bgegnet und er erinnert euch an Günter Netzer,  dann liegt das an den speziellen Extensions für alte Fußballer.  

Vor einem knappen Jahr war unser Dachgeschoss ausgebaut. Der Rentner lag auf seinem Balkon auf der Lauer, um zu sehen, wer da einzieht. Bestimmt irgendwelche Hipster aus dem Schwabenland, die ihm nun auch noch seinen gehüteten Parkplatz vor dem Haus für ihren SUV streitig machen. Und dann das: Die jungen Leute laden zu einer Einweihungsparty in ihre Dachwohnung ein. Bartleby als Rampensau mit seinen Geschichten als ewiges Kriegskind natürlich sofort im Mittelpunkt. Das hatte er nicht anders erwartet. Was ihn dann doch überrascht und beschämt hat, war vor kurzem ihr Anschlag am Schwarzen Brett: „Liebe Nachbarn, ruft uns an, wenn wir für euch einkaufen sollen. Wir machen das gerne.“ Bartleby wohnt seit 55 Jahren in diesem Haus, aber so etwas hat er noch nie am Schwarzen Brett gelesen. Der alte Mann muss mal wieder an seinen Vorurteilen arbeiten. Wer ihn kennt, weiß, wie schwer ihm das fällt.

Lieber Bartleby, das klang aber heute alles sehr ernst. Zum Schluss bitte doch noch was Lustiges, trotz Corona. Na schön. Bartleby hat neulich einen Witz gehört, der ihn an seine glorreiche Zeit als Seminarguru in der ehemaligen DDR erinnerte. Die aufgebrezelten Damen in ihren weißen Rüschenblusen monierten damals, dass er als Wessi immer alles wie Steffi Graf „super“ findet. Bartleby neugierig: „Was sagt ihr denn statt dessen?“ Ein Chor aus 12 Kehlen: „Einwandfrei“. Und jetzt der Witz: „Was ist ein Haus mit drei Wänden?“ Antwort: „Einwandfrei!“. Verstanden?

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