Little Richards +++ ESW +++ Rolf Hochhuth +++ Laterne +++ Hanns-Josef Ortheil +++ Russells Teekanne +++ Tweet +++ Alexa

Ich weiß nicht, ob es euch auch so geht wie dem alten Bartleby. Irgendetwas passiert in der Welt und auf einmal kommen die Erinnerungen wieder hoch. Wie jetzt bei der Nachricht vom Tod Little Richards. Es war in den 60ern in Berlin. Bartleby war noch neu in der Stadt, als ihn eine Kommilitonin in den Jazzkeller des benachbarten Studentendorfs schleppte. So etwas kannte er aus Marburg nicht. Dort hatte er immer im „Krug zum grünen Kranze“ noch vor Heino „Schwarz-braun ist die Haselnuss“ und ähnliches Liedgut geschmettert. Doch jetzt brach im Keller ein vorher nie gehörtes Getöse los: „Tutti frutti“, „Lucille“ und „Good Golly Miss Molly!“ – „Wer ist das denn?“ schrie er seiner Begleiterin ins Ohr. „Little Richards! Kennst du den nicht?“ schrie sie zurück. Ein Kulturschock für den braven Jungen aus dem tiefsten Hessen, aber der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Nicht zwischen ihm und der Kommilitonin, sondern zwischen ihm und Little Richards.

Das war aber auch die Zeit, in der er noch mit Mutters VW aus dem verschlafenen Eschwege durch Berlin kurvte. Der junge Mann vom Land bog dann schon mal falsch ab. Woher sollte er denn wissen, dass das jetzt eine achtspurige Hauptstraße ist? Kein Warnschild weit und breit. Die Berliner Autofahrer sahen nur auf sein Nummernschild mit den drei Buchstaben, tippten sich an die Stirn und verzichteten aus Mitleid, ihn anzuhupen.

Als die Winter noch richtige Winter waren, sah das damals die Berliner Polizei einmal anders: „Die Papiere!“ – „Was hab ich denn gemacht?“ – „Steigen Sie mal aus!“ – Bartleby steigt aus. „Ihre Nummernschilder sind voller Schnee. Das Kennzeichen kann man nicht mehr lesen. Das ist eine Ordnungswidrigkeit.“ – Bartleby entschuldigt sich und beginnt damit, die Kennzeichen vom Schnee zu befreien. Erst das „E“, dann das „S“ und zum Schluss noch das „W“. „ESW, wo soll das denn sein?“ fragt der Wachtmeister. Bartleby: „In Hessen“. – „Und wo ist Hessen?“ – „Wenn sie nach der Grenze hinter Helmstedt links abbiegen, dann ist es nicht mehr weit.“ – „Wieder was gelernt. Ihre Papiere zurück. Gute Fahrt“. Ein erleichterter Bartleby und ein Berliner Polizist, der jetzt den Weg nach Hessen kennt. Donald Trump würde sagen, das war kein schlechter Deal.

Rolf Hochhuth ist auch gestorben. Mein erster Gedanke: Verdammt nochmal, warum hast du ihn nie angesprochen. Wir liefen uns in Berlin Mitte mehrmals über den Weg. Was hätte ich sagen sollen? „Hallo Herr Hochhuth, ich bin auch aus Eschwege.“ War mir zu blöd. Bartleby wollte dann wie immer lieber doch nicht. Jetzt ärgert er sich, aber es ist zu spät. In der Biografie meines Lieblingslehrers am Eschweger Gymnasium fand ich, dass der junge Hochhuth ihn immer wieder auch nach seiner Schulzeit privat aufgesucht hat. Müller-Mutz wurde so etwas wie sein Mentor auf den Spuren eines unseligen Papstes, des „Stellvertreters“.

Bartleby war ja bis 1960 Chefredakteur der Schülerzeitung „Laterne“. Nur ein paar Jahre später veröffentlichen seine Nachfolger einen positiven Artikel über Hochhuth und seinen „Stellvertreter“. In Berlin haben damals sogar fromme Katholiken auf dem Kudamm gegen Hochhuth und sein Stück demonstriert. Auch die Honoratioren unseres Städtchens waren außer sich und der Direktor der Schule natürlich erst recht. Er verbot den Verkauf der Schülerzeitung. Sie wurde dann eben vor dem Schultor aus einem Kinderwagen heraus verkauft und war ein großer Erfolg. Glaubt ja nicht, dass wir in der Provinz nur gekuscht haben.

Woche für Woche demonstrieren Verschwörungstheoretiker und andere vor dem Reichstag. Wisst ihr eigentlich, dass Bartleby einmal auch so ein glühender Anhänger von Verschwörungstheorien war? Zugegeben, da war er noch sehr jung. Es begann mit dem Weihnachtsmann, der den kleinen Bartleby beschenkte. Danach kam der Nikolaus mit oder ohne Rute und später noch der Osterhase. 

Der kleine Bartleby war überzeugt, die gibt es wirklich und überall im Land. Aber nach ein paar Jahren nahm der Junge sein Aluhütchen ab und verabschiedete die drei aus seinem Leben.

Nur einer blieb: der liebe Gott.  Dafür sorgte schon Mutter, die jeden Abend mit dem armen Jungen betete, ob er wollte oder nicht. Aber natürlich erst, nachdem der Krieg zu Ende war. Bis dahin hatte der liebe Gott bei uns einen schweren Stand. Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil antwortete in einem Interview auf die Frage „Welche Verschwörungstheorie halten Sie für wahr?“ mit „Die der Bibel.“ Nicht schlecht, ist aber nicht zuende gedacht, lieber Ortheil. Die Bibel ist mehr als eine Verschwörungstheorie. Für Bartleby, jetzt wieder mit Aluhut, ist sie eher ein Handbuch für eine Verschwörungspraxis. 

Wie so eine Verschwörungstheorie oder -praxis entsteht, hat Bertrand Russell sehr bildhaft am Beispiel einer Teekanne gezeigt. Ich hoffe doch, dass dieser Philosoph wenigstens den Älteren unter euch noch etwas sagt. Also los: Es geht.um die Königsdisziplin der Verschwörungstheorien, die Religion. Russells Teekanne ist eine Analogie, mit der er veranschaulichen wollte, dass die Beweislast einer Behauptung bei dem liegt, der sie aufstellt, und keinesfalls eine Widerlegungspflicht bei anderen besteht. „Wenn ich behaupten würde“, so Russell, „dass es zwischen Erde und Mars eine Teekanne aus Porzellan gäbe, die auf einer elliptischen Bahn um die Sonne kreise, so könnte niemand meine Behauptung widerlegen, vorausgesetzt, ich würde vorsichtshalber hinzufügen, dass diese Kanne zu klein sei, um selbst von unseren leistungsfähigsten Teleskopen entdeckt werden zu können. Aber wenn ich nun daherginge und sagte, da meine Behauptung nicht zu widerlegen sei, sei es eine unerträgliche Anmaßung menschlicher Vernunft, diese anzuzweifeln, dann könnte man zu Recht annehmen, ich würde Unsinn erzählen.Wenn jedoch in antiken Büchern die Existenz einer solchen Teekanne bekräftigt würde, dies jeden Sonntag als heilige Wahrheit gelehrt und in die Köpfe der Kinder in der Schule eingeimpft würde, dann würde das Anzweifeln ihrer Existenz zu einem Zeichen von Normverletzung werden. Es würde dem Zweifler die Aufmerksamkeit eines Psychiaters oder, in einem früheren Zeitalter, die Aufmerksamkeit eines Inquisitors einbringen.“ Nicht allein deshalb ist Bartleby schon seit Jahren Mitglied in der „Giordano Bruno Stiftung“.

Ich höre euch seufzen. Ja, das war für den einen oder anderen von euch heute starker Tobak. Und das auch noch nach Rolf Hochhuth. Wenn ihr demnächst mal wieder auf eine Corona-Demo vorm Reichstag geht, werdet ihr vergeblich Ausschau nach dem alten Meckerer aus Moabit halten. Bartleby hat seinen Aluhut schon längst an eine hübsche Impfgegnerin verschenkt. Wieder zu Hause wird eine Flasche geöffnet und dann wollen wir doch mal sehen, wer von uns beiden wirklich zu einer Risikogruppe zählt, das Virus oder ich, Flatten the bottle, flatten the curve.

Als kleines Bonbon zu Corona noch einen herrlichen Tweet aus meiner Zeitung: „Was? Ich muss im Restaurant jetzt meine Adresse angeben??? Dann bleib ich lieber zu Hause und bestell mir was.“

Alexa, ich möchte heute endlich über was Politisches schreiben dürfen.

Vergiss es!

Auch nicht über Christian Lindner?

Ich dachte, du wolltest etwas über einen echten Politiker schreiben.  

Aber das ist doch der, der lieber nicht regieren wollte als schlecht regieren.

Das ist ihm doch bisher gut gelungen. Wo steht die FDP in den Umfragen?

Im Berliner Nobel-Restaurant „Borchardt“, wo denn sonst, musste er jetzt von der Polizei mit 300 anderen Gästen an die frische Luft gesetzt werden.

Weil er randaliert hat? 

Hätte er besser mal. Stattdessen hat er sich im Restaurant über alle Corona-Regeln hinweggesetzt und sich von seinem Weißrussland-Kumpel (!) mit einer innigen Umarmung verabschiedet.

Ich sags doch: besser nicht umarmen als schlecht umarmen. Der lernt es nie. 

Mely Kiyak +++ Epiktet +++ Josef Hader +++ Frank Castorf +++ Curt Cowall +++ Mauersegler +++ Warten aufn Bus +++ Mietvertrag +++ Familienpfiff +++ Alexa

Kennt einer von euch Mely Kiyak? Ich sehe da nur wenige Hände hochgehen. Schämt euch! Mely Kiyak ist nicht nur hübsch, sondern auch eine der geistreichsten Kolumnistinnen im deutschen Blätterwald (Die Zeit). Glaubt ihr nicht? Dann lest einmal, warum sie versteht, dass ausgerechnet einer wie Bartleby sich in dieser Corona-Krise so gelassen bewegt: 

„Wer beispielsweise schon einmal Krebs hatte oder eine andere sehr komplizierte und hartnäckige Krankheit, die längst zu den besiegten oder, sagen wir, zu Ende erforschten Feldern gehört, wer sich also in einem zermürbendem Behandlungszyklus bewegte, ist für jeglichen Ausnahmezustand anders gewappnet. Denn nichts unterbricht die Freiheit so sehr wie Krankheit. Wer durch die dunklen Stunden ging, der wird unter dem Begriff Ausnahme und Stillstand des Alltags noch andere Dinge assoziieren. Für den ist diese Corona-Zeit ein weiterer Ausnahmezustand in einer Reihe von Zuständen.“ 

Macht euch also keine große Sorgen um den alten Mann. Er gehörte schon als Kriegskind zu einer Risikogruppe, dann als Krebspatient in der Charité und jetzt halt wieder wegen Corona. Wird man so zum Stoiker? So einfach ist das nicht. Aber wenn ihr euch vielleicht mal mit Epiktet befasst, ein Philosoph zu Neros Zeiten. „Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Urteile und Meinungen über sie.“ Oder in Marc Aurels „Selbstbetrachtungen“ lesen. Corona verschwindet damit nicht, aber seine Gedanken können wie eine Schutzmaske für die Seele wirken und zur nötigen Gelassenheit führen. Oh Gott, habe ich jetzt wirklich „Seele“ gesagt? Bartleby ist auch nicht mehr der, der er einmal war. 

Selbst Josef Hader stellt sich um in der Krise: „Ich bin jetzt ethischer Vegetarier. Ich esse nur Tiere, die nicht schreien, wenn man sie umbringt.“ Aber jeden Tag Fisch? Das wäre nix für Bartleby. Ab und zu ein Dutzend Austern müssten es schon sein. Natürlich mit Champagner. Wenn schon degeneriert, dann aber richtig.

Ihr kennt doch alle Frank Castorf von der Volksbühne? Er ist ja schon lange mein Bruder im Geiste: „Ich möchte mir von Frau Merkel nicht mit einem weinerlichen Gesicht sagen lassen, dass ich mir die Hände waschen muss. Das beleidigt meine bürgerliche Erziehung.“ Dafür hätte ich ihn küssen können, aber wie sollte das mit Maske gehen? Dazu Theodor Fontane: „Wer nicht weiß, dass er eine Maske trägt, trägt sie am vollkommensten.“  

Als man es noch durfte, ging Bartleby mit seiner Herzdame hin und wieder in einem Restaurant essen. Dann kam irgendwann der Moment, an dem ihn sein Urologe daran erinnerte, die örtliche  Keramik-Abteilung aufzusuchen. Soweit so gut. Aber der Rückweg an den Tisch war dann immer eine Art Spießrutenlaufen. Was die schöne Frau am Tisch hinter ihrem Lächeln verbarg, war ihre Merkelsche Frage: Hat der Typ sich nun auf dem Klo die Hände gewaschen oder nicht wie die meisten Männer? Doch, hat er. Oder zweifelt hier irgendjemand daran, dass Bartleby nicht bürgerlich erzogen wurde? Leute, wenn ihr dabei gewesen wärt, bürgerlich ist dafür gar kein Ausdruck!

Bartleby beschäftigt sich jetzt viel mit seinen Erinnerungen an das Kriegsende. Witzig war da nichts. Aber immerhin, der Berliner Verleger Curt Cowall hat in seinen Tagebüchern ein Ereignis festgehalten: Als ich an einer Villa vorbeikomme, schreibt er, höre ich einen Tiefflieger und schon bellte das MG viermal scharf auf: Tacktack, Tacktack! – Ich bleibe unter einem Baum vor dem Haus stehen, um Deckung zu haben, da öffnet sich die Haustür, und eine ältere Dame sieht mich an und fragt „Verzeihung, haben Sie bei uns geklopft?!!!“ Welch ein Glück, wenn man schlecht hört! 23. April 1945.

Jetzt sind sie wieder da, meine Mauersegler, pünktlich wie die Maurer. Fritz Sandrock hat sie wie jedes Jahr aus seinem Andalusien auf die Reise geschickt. Stellt euch einfach vor, wie Bartleby jetzt wieder mit Tapas und einem Rosé auf dem Balkon sitzt und den eleganten Fliegern bei ihren Kunststücken zuschaut. Wenn sie dann in der Nacht verschwinden, kommen die Fledermäuse und der liebestolle Fuchs schaut, ob das Eichhörnchen ihm ein paar Erdnüsse unter der Motorhaube seines Autos übrig gelassen hat. Zur Erinnerung: Bartleby lebt nicht in einem Naturschutzgebiet, sondern in Berlin-Mitte, zehn Minuten vom Kudamm oder Schloss Bellevue entfernt.

Ihr erinnert euch: letztes Jahr hatte ich berichtet, dass Berlin die Hauptstadt der Nachtigallen ist. Jedes Jahr ziehen etwa 3.000 Nachtigallen vor allem aus England nach Berlin. Erst waren es die Schwaben in Prenzlauer Berg, jetzt sind es die sangesfreudigen Vögel in den Berliner Parks. Bartleby wohnt ja am Rande des Tiergartens. Er kann also, wenn er will, bei offenem Fenster die ganze Nacht den Gesängen lauschen. Bis ihn im Morgengrauen das nervige Gurren der Tauben den Schlaf raubt. Aber wer sich in Berlin an der Natur stört, kann ja aufs Land ziehen.

Tipp für alle, die tatsächlich noch nicht die wunderbare Serie „Warten aufn Bus“ in der RBB-Mediathek gesehen haben: Samuel Beckets „Warten auf Godot“ auf Brandenburgisch, mit Wladimir und Estragon an einer Bushaltestelle in der Walachei weit weg von Potsdam. Ein Einblick in nie geahnte Brandenburgische Philosophie: „Man macht sich durch die Eigenschaften, die man hat, nicht so lächerlich wie durch die Eigenschaften, die man haben möchte.“ Denkt drüber nach. 

Aus gegebenem Anlass hat Bartleby mal wieder in seinen alten Mietvertrag von 1967 geschaut. Erstaunlich: Blumen auf dem Balkon hatte der Vermieter untersagt. Haustiere auch. Unsere Katzen haben sich totgelacht. Statt der Blumen auf dem Balkon haben wir Haschisch zwischen den Doppelfenstern angebaut. Gut, das waren die 68er. Würde er heute nicht mehr machen. Aber warum eigentlich nicht?  Den Mietvertrag bekamen wir nur, weil wir uns verpflichten mussten, in Kürze zu heiraten. Aber wozu war man damals nicht alles bereit, eine tolle Wohnung zu bekommen? Ganz nebenbei: der Mietvertrag hielt länger als der Ehevertrag.

Habt ihr einen Familienpfiff? Dieses Wort hatte ich seit Jahrzehnten nicht mehr gehört, aber jetzt wieder im Radio. Doch unsere engere und erweiterte Familie hatte auch so einen Pfiff. Ich weiß sogar noch, wie er geht: Fü-fa-tü-tü oder so ähnlich. Wer von uns in einer Menge diesen Pfiff hörte, wusste, er muss sofort bei Fuß sein wie ein richtiger Hund. Sowas kennen die Kids heute gar nicht mehr; sie haben dafür ja ihre Smartphones.

Bartleby, was ist los, kein Witz heute? –  Ich glaube, das passt jetzt nicht. – Überlass das mal uns, die Kinder schlafen schon. – Na gut, ausnahmsweise. Der geht so: „Sag mal, wenn ich mal tot bin, würdest du dann noch einmal mit einer anderen Frau schlafen? – Ja, aber dafür musste doch nicht tot sein.“ Ihr habt es so gewollt.

Alexa, darf ich heute endlich doch mal über was Politisches schreiben? Bitte!

Vergiss es!

Auch nicht über die BILD-Zeitung?

Was soll denn an der politisch sein?

Seit Monaten schreibt sie den Söder zum Führer eines grossbayerischen Reiches hoch.

München war und ist nunmal die „Hauptstadt der Bewegung“.

Alexa, bist du sicher, dass der einfache BILD-Leser merkt, was da vorbereitet wird?

Wenn er es merkt, wäre das schlecht gemacht. Das muss ich dir mit deinen paar Semestern Publizistik doch nicht erklären.

Also gibt’s bald wieder einen neuen „Völkischen Beobachter“? Aber was wird dann aus „BILD“?

Ganz einfach. Nennt sich dann um in „Bayerischer Beobachter“.