Hannes Wader +++ Trotz alledem +++ Café Kranzler +++ Reinhard Mey +++ Tschaikowsky +++ Stradivari +++ Bob Marley +++ Manfred Krug +++ Van Morrison +++ Potsdam +++ Frauen

Viel zu schade für mich

„Einmal kam sie auf ein Glas Wein
zu mir herein, zu mir herein.
Sie schaute sich um, spuckte kräftig in die Hände
und brachte Ordnung in meine vier Wände.
Alle Sofakissen hatte sie geschickt
und sauber in der Mitte geknickt …
Ich weiß, so ein Mädchen ist eigentlich
viel zu schade für mich,
viel zu schade für mich!“

Na, von wem stammt das? Wer so alt ist wie Bartleby, weiß das natürlich: Hannes Wader. Es ist sein Lieblingslied von ihm. Wenn er es hört, kommen sofort die Erinnerungen wieder hoch. Mehr verraten über dieses Mädchen möchte Bartleby aber lieber nicht. 

Was hat Bartleby mit Hannes Wader zu tun? Er hat sich vor einiger Zeit seine Autobiografie „Trotz alledem“ besorgt. Am interessantesten für ihn darin nicht die Kapitel über den erfolgreichen Künstler von heute, sondern die über seine Kindheit in der Nachkriegszeit auf dem Dorf und seine Anfänge in Berlin. 

Bartleby und Hannes wären sich sympathisch gewesen. Beide schüchterne Jungs mit Angst vor Mädchen, aber nicht vor Fröschen, die sie mit ihren Kumpels aufgeblasen haben. Mein Opa kam aus Schlesien, seiner aus Eschwege (!). Nicht ausgeschlossen, dass wir uns schon in den 50ern dort über den Weg gelaufen sind. 

Das ist dann aber mit Sicherheit im West-Berlin der 60er passiert. Genau wie Bartleby ist Hannes damals vor der Bundeswehr in die Stadt geflüchtet. Aber ihr Start dort konnte unterschiedlicher nicht sein. Bartleby, sozialisiert in einer bürgerlichen Nazi-Familie, warf sich sofort den Kapitalisten in die Arme. Die Allianz wusste das zu würdigen und besorgte ihm eine große noble Altbau-Wohnung in Tiergarten. 

Hannes Wader hatte nicht soviel Glück. Ohne Geld landete er in einem kleinen Zimmer in der Görlitzer Straße in Kreuzberg. Keine Dusche, kein Bad, kein Warmwasser, ein winziger Kohleofen und das Klo eine halbe Treppe tiefer. Miete 40 Mark im Monat. Dafür machte er Straßenmusik vor dem Café Kranzler. Er besaß nicht einmal einen Koffer für seine Gitarre. Die Münzen mussten die Leute in eine Blechbüchse werfen. Bartleby konnte ihm von seinem Arbeitsplatz im Allianz-Haus gegenüber zusehen. Der Versicherungsfritze ist bestimmt einige Male an ihm vorbei gegangen, ohne etwas hineinzuwerfen. Schäm dich, Alter!

Heute erinnere ich mich wieder an die Abende, die Monika und ich im Folk Pub, Go-In oder im Steve Club verbracht haben. Da traten sie alle auf, die damals noch kaum einer kannte, unter ihnen Reinhard Mey, die Insterburgs und natürlich Hannes Wader. Jeder nur eine Viertelstunde für fünf Mark und ein Bier. Dann gings ab in die nächste Kneipe. Reinhard Mey war der Einzige, der einen grauen Käfer hatte, mit dem er auf Konzerte in Westdeutschland fuhr. Manchmal nahm er Hannes mit und schob so langsam auch dessen Karriere an. Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Jahre später hat Bartleby natürlich auch seine Konzerte in Berlin besucht. Ob er dabei geahnt hat, dass unter seinen Fans auch ein Dorfjunge saß, der einmal wie er Frösche aufgeblasen hatte? Das Mädchen, das Bartlebys Sofakissen immer noch in der Mitte knickte, verschwand nach dem Konzert mit einer roten Nelke und einer Flasche Bier in der Garderobe von Hannes. Ich nehme an, das hat ihm gefallen.

Wo es heute hier schon so musikalisch zugeht, fällt Bartleby auf, dass es immer Frauen waren, die ihn auf andere Künstler aufmerksam gemacht haben. Das begann mit Monika in Marburg, die den Fan von Heino und Freddy mit der Klassik bekannt machte. Das Violinkonzert von Tschaikowsky lief auf ihrem kleinen Plattenspieler rauf und runter. Eine besondere Pointe dazu ereignete sich später in Berlin. Bartleby wohnte damals am Rüdesheimer Platz in einer Wohnung mit Künstlern, die eine wie die Wirtin Tante Vogel brauchten, um überhaupt mit einem sauberen Hemd in der Philharmonie erscheinen zu können. Fischer Dieskau war gerade ausgezogen, aber Professor Schwalbé und sein Beo blieben seine Nachbarn. Der Professor war der Erste Konzertmeister der Berliner Philharmoniker unter Karajan und was übte er im Nebenzimmer von morgens bis abends für das nächste Konzert? Richtig: Das Violinkonzert von Tschaikowsky in D-dur. Beim gemeinsamen Abendessen in der Küche von Tante Vogel haben sich die beiden Experten dann ausgetauscht. 

Bartlebys große Stunde schlug dann, als der Professor ihn fragte: „Sagen Sie mal, junger Mann, was ist da eigentlich im Moment auf den Straßen los? Ich verstehe das nicht.“ Wir hatten 1967, 1968. Bartleby konnte helfen. Zum Dank durfte der junge Mann dann seine Stradivari in der Küche in den Arm nehmen. Wert fast eine Million und von Axel Caesar Springer gestiftet. Das trübte Bartlebys Bewunderung ein wenig. Dass ich später nach dem Attentat auf Rudi Dutschke mit Hannes Wader und anderen vor dem Springer-Haus demonstriert habe, habe ich ihm lieber verschwiegen. Wer weiß, wie sich das sonst auf seinen Tschaikowsky ausgewirkt hätte. Hannes Wader verlor bei dem Krawall dort zwei Schneidezähne. Bartleby hatte sich dagegen mit seinem Karmann Ghia Cabrio rechtzeitig aus dem Staub gemacht. Als Kriegskind wusste er immer, wann es Zeit war, abzuhauen. 

Monika war es also, die ihm die Klassik nahe brachte. Seine umfangreiche Plattensammlung zeugt noch heute davon. Dann kam Bartlebys erste midlife-crisis und eine Affäre mit einem blonden flower-power-girl, barfuß mit Blumen im Haar. Natürlich gab es bei ihr Probleme mit Drogen und Bartleby musste das schöne Kind mit Tatütata ins Krankenhaus bringen lassen. Bei den Verhandlungen mit der Polizei gelang Bartleby ein rhetorisches Meisterstück und die Beamten verzichteten letztendlich auf eine Anzeige gegen sie wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Die Affäre endete dann trotzdem wenig später tragisch. Was sie Bartleby hinterließ, war die Entdeckung von Bob Marley und dem Reggae. 

Die DDR war für Bartleby lange ein weißer Fleck auf der musikalischen Landkarte, Das änderte sich nach 1968 und dem Einmarsch der Sowjets in Prag. Bartleby und Monika lernten dort im „U Fleku“ eine Frau aus Ost-Berlin kennen. Bei unseren Besuchen in ihrer Datsche in Weißensee hörte ich zum ersten Mal etwas von Manfred Krug und konnte es kaum fassen, dass jemand in dieser grauen Umgebung solche wunderbaren Chansons hervorbrachte. Leider war der Nachbar von der Stasi und hörte uns ab. Ich hoffe, wenigstens Manne Krug hat ihm gefallen.  

Danach trat eine rothaarige Irin mit besten Connections in die Berliner Irish Music Szene in Bartlebys Leben. Seitdem höre ich immer wieder Irish Folk von den Dubliners bis Van Morrison. Der große kleine alte Mann gab vor einiger Zeit ein Konzert in Berlin. Bartleby und Miss Galway natürlich in der ersten Reihe. Amazing.

Zwischendurch hatte Bartleby Hannes Wader aus den Augen, besser aus den Ohren  verloren. Das änderte sich gründlich in einer Wohnung in Potsdam mit Blick auf blühende Kastanien vor dem Balkon. Und auf Sofakissen mit einem Knick in der Mitte. Plötzlich war er wieder da, der linkische junge Mann aus den Charlottenburger  Kneipen mit seinen berührenden Liedern. Und blieb es bis heute.

Bartleby hat sich oft gefragt, wieso es immer wieder Frauen waren, die ihm neue musikalische Welten erschlossen haben. Eine Antwort könnte sein: einfach, weil sie Frauen waren. Hätte es sie nicht gegeben, würde der alte Bartleby wahrscheinlich heute noch mit seinen Kumpels beim Bier sitzen und zusammen mit Heino „Schwarz-braun ist die Haselnuss“ singen. Das war einmal Bartlebys Welt. Bis die bessere Hälfte der Menschheit sich um ihn kümmerte. Aber sie war viel zu schade für ihn. Mein Gott, jetzt ist das doch fast ein Hannes Wader Spezial geworden. Nicht böse sein.

Liebe Alexa, heute passt du nicht recht hier hin. Mach bitte zum Schluss Platz für ein Lied von Hannes Wader über einen Mann, dem sein Arzt gerade gesagt hat, dass er Krebs hat und nur noch kurze Zeit zu leben: 

„Ich hatte mir noch soviel vorgenommen,
vielleicht wäre doch, vielleicht wäre doch
manches dabei herausgekommen.
Aber jetzt denk ich wohl besser daran,
wie ich mir noch, wie ich mir noch
einen guten Abgang verschaffen kann …“

Newsletter-Extra

Bartleby stochert gelegentlich in seiner nicht gerade aufregenden Vergangenheit herum. Jetzt stieß er dabei zwar nicht auf die heiße Affäre mit einer schönen Frau, aber auf einen Moment, in dem ihn der „Mantel der Geschichte“ (H. Kohl) gestreift hat. Wer es nicht glaubt, den könnte vielleicht dieser Newsletter-Extra interessieren.

In seiner frühen Allianz-Zeit hatte Bartleby ein enges Verhältnis zu seinem Chef. Wir unterhielten uns häufig über das Vorkriegs-Berlin, in dem er als Junge in kurzen Hosen seine Zeit bei der Allianz begann. Irgendwann kam mir die Idee, doch einmal die früheren Allianz-Gebäude im jetzigen Ost-Berlin zu besuchen und von dort vielleicht sogar ein Souvenir mitzubringen. Er war begeistert, durfte aber dienstlich nichts damit zu tun haben. Wer Bartleby kennt, weiß, dass er es dann auf die eigene Kappe nimmt, wenn es schief geht. 

Es ging aber alles gut und wenig später (Juni 1983) erschien von mir dieser Artikel in der „Allianz-Zeitung“, mit dem ich den Schwaben auch die Sehenswürdigkeiten Ost-Berlins nahebringen wollte. Heute haben die Schwaben selbst den Prenzlauer Berg besetzt und brauchen keine Tipps mehr von mir. „The times they are a changing.“  

Eine ganz und gar ungewöhnliche Stadtrundfahrt

Auf den Spuren der Allianz in Ost-Berlin

Ulrich Kubitz, Mitarbeiter der NL Berlin, machte sich auf, um über die alte Allianz in Ost-Berlin zu berichten. Die Dinge nahmen einen ungeahnten Verlauf.

Langsam kurve ich in meinem alten BMW um den Reichstag. Von den Wiesen steigen Rauchschwaden in den Himmel. Grillen und Fußball spielen, ein typisches Berliner Wochenende. Nächste Ampel rechts, und nach ein paar Metern passiere ich die Mauer, halte am Kontrollpunkt Invalidenstraße. Nichts vergessen? Ausweis, Visum, alles da. Kofferraum, Handschuhfach, alles leer. So aufgeräumt war der Wagen schon lange nicht mehr. Selbst die Micky-Maus-Hefte meines Sohnes mussten zu Hause bleiben. Im Handumdrehen habe ich die Papiere zurück, Geldumtausch, Zollabfertigung, dann geht die Schranke hoch. Hannoversche Straße. Viel Uniform vor dem Gebäude der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland. Friedrichstraße.Ein Schatten vergangener Jahre. Hier fällt er mir zum ersten Mal auf: ein hellgrauer Dacia, der seit einiger Zeit hinter mir herfährt. 

Was wollen die bloß von dir? Keine Ahnung. Ich parke am früheren Gendarmenmarkt, einem der schönsten Plätze des alten Berlin, und spaziere erst einmal los. Der ganze Platz ist eine riesige Baustelle. Deutscher und Französischer Dom, dazwischen Schinkels Schauspielhaus, stecken bis zum Dach in Gerüsten. Ich biege um den Bauzaun und warte.

Und richtig, der Dacia hält ganz in der Nähe. Zwei Männer steigen aus, mittleres Alter, weißer Mantel und brauner Parka, alles auffällig unauffällig. Warum in aller Welt beschatten die dich? Du wolltest dich doch bloß mal umsehen, wo die Allianz früher war. Beschreiben, was aus der Gegend geworden ist, die einmal zu den feinsten Adressen der deutschen Wirtschaft gehörte.Was stört den Staatssicherheitsdienst daran?

Ich gehe die Mohrenstraße hinunter, vorbei am ehemaligen Sitz der Direktion von Allianz Leben. Heute gehört das langgestreckte Haus dem Elektronikhersteller Robotron. Es macht einen ziemlich ungepflegten Eindruck, scheint sich aber sonst überhaupt nicht verändert zu haben. Einziger Farbtupfer ein paar Kinderzeichnungen am Fenster, der Hort des Betriebes. Der Ausblick durch die reichlich blinden Scheiben würde einem alten Allianzer sicher weh tun. Sein Blick fiele auf ein Mittelding zwischen Schrottplatz und Kohlelager.

Ein paar Schritte weiter das ehemalige Gebäude der Generaldirektion mit seiner markanten Säulenfront. Jetzt beherbergt es die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft und das Amt für Zivilverteidigung beim Ministerrat der DDR. Vor dem Haus Posten, die mich eindrücklich mustern, wie rechte Posten das halt so tun müssen.

Das muss es sein! Erst wenige Wochen ist es her, dass ich hier ein paarmal um den Block gefahren bin, mich umgesehen und Fotos gemacht habe. Und in dieser Gegend fällt man auf. Vor 45 Jahren pulsierte an dieser Stelle das Leben einer Weltstadt zwischen Wilhelmsplatz und Friedrichstraße. Heute gehört mir die ganze Mohrenstraße allein.

Oder doch nicht? Ich überquere die Straße  und stehe vor der Botschaft Nordkoreas. Überall Botschaftsangehörige, die eifrig Hof und Bürgersteig mit langen Reisigbesen fegen. So muss es heute noch in koreanischen Dörfern Brauch sein. Im Schaukasten lauter Bilder vom Großen Führer Kim Il Sung.

Und wer spiegelt sich da in den Scheiben? Richtig: der weiße Mantel und der braune Parka! Was nun? Die U-Bahn! Ich steige langsam die Treppe hinunter und gehe auf den leeren Bahnsteig. Spray an den Wänden: „ACDC“, „No future“ und das bekannte Signum der Hausbesetzer. Aber ich bin nicht in Kreuzberg, sondern auf dem U-Bhf Thälmannplatz in der „Hauptstadt der DDR“.

Ich gehe durch die Taubenstraße zurück, die heute Johannes-Dieckmann-Straße heißt, und setze mich in meinen Wagen. Wohin jetzt? Nach Grünau an die olympische Regattastrecke, wo das ehemalige Bootshaus der Allianz steht? Aber in der umgebauten „Keksdose“ residiert heute kein Geringerer als der Armeesportclub „Vorwärts“. Dort wimmelte es das letzte Mal schon von Uniformen. Das scheint mir heute keine gute Idee zu sein.

Dann schon lieber zum Palast der Republik, da verlieren sie dich vielleicht am ehesten aus den Augen. Unter den Linden. Vorbei am Alten Fritz und an der Neuen Wache, im Rückspiegel das Brandenburger Tor und natürlich meine Freunde von der Stasi. Im Palast ein Rockfestival, restlos ausverkauft. Ich entschließe mich zu einem Blitzbesuch im Dom gegenüber. Von einem Turmfenster aus habe ich einen hervorragenden Blick auf das Geschehen unter mir. Weißer Mantel und brauner Parka rennen vor dem Palast der Republik  auf und ab, gestikulieren, sind offensichtlich ratlos. Ein Typ in einer Lederjacke spricht mit ihnen, zeigt in Richtung Dom und kommt selbst herüber. Sie haben mich also doch wieder.

Vielleicht schaffe ich es im Pergamonmuseum. Dort kenne ich so ziemlich jeden Winkel. Außerdem habe ich neue Begleiter. Ein blauer Lada, junger Mann am Steuer, daneben ein älterer Herr mit Schiebermütze, könnten Vater und Sohn sein. Aber von Kultur scheinen sie nicht viel zu halten. Ich warte fast eine halbe Stunde am Ende der babylonischen Prozessionsstraße. Niemand kommt. Als ich das Museum wieder verlasse, stehen die beiden auf der Brücke und spucken in die Spree.

So langsam habe ich die Nase voll. Ein letzter Versuch: Der Dorotheenstädtische Friedhof an der Chausseestraße! Einmal um den Alexanderplatz, beschleunigen, bremsen, wenden, „Vater und Sohn“ im Lada immer hinterher. In der Friedrichstraße sind auch meine Freunde mit ihrem Dacia wieder da. Wir fahren Kolonne, vorbei am Luxushotel „Metropol“, dann ist auch schon der Friedhof da.

Jetzt! Ich trete voll auf die Bremse, Lada und Dacia scheinen total überrascht, fahren fast auf mich drauf und schleudern mit quietschenden Reifen vorbei. Auf dem alten Friedhof Steine mit berühmten Namen: Fichte und Hegel, auch Brecht und Heinrich Mann. Der Versuch, meine Gedanken zu ordnen. Dann die Idee!

Ich gehe zurück zu meinem Wagen und richtig, nicht weit davon parkt der blaue Lada. Ungläubiges Staunen bei „Vater und Sohn“, als ich einfach an die Scheibe klopfe. Langsam wird das Fenster heruntergekurbelt. „Übrigens, ich fahre jetzt ins Metropol einen Kaffee trinken. Sie sind herzlich eingeladen.“ Doch im Lada kommt keine rechte Freude auf. Ich höre nur ein mürrisches „Weitergehen!“ und schon ist die Scheibe wieder oben. So sitze ich dann allein im eleganten Metropol, schlürfe meinen Kaffee und habe endlich Zeit, darüber nachzudenken, womit ich wohl die geballte Aufmerksamkeit der Stasi verdient habe. Wenn es die Spuren der alten Allianz waren – sie sind verweht. Es muss etwas anderes sein. Ich habe da einen Verdacht.

Eine Stunde später wieder im Kontrollpunkt. Kofferraum auf, Sitzbank hoch, Kofferraum zu. „Schönen Abend noch“ wünscht der freundliche Grenzer und öffnet die Schranke. Eigentlich ein ganz normaler Tag in Berlin.

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Den Schluss meines Artikels hatte damals die Allianz Stuttgart zensiert und einen Satz gestrichen. Ein DDR-Grenzer durfte nach dem Selbstverständnis der Schwaben nicht „freundlich“ sein. Ein Grund für mich, meine Tätigkeit als Berlin-Korrespondent der „Allianz-Zeitung“ zu beenden. „Sofort! Unverzüglich!“ 

Wie die andere Seite diesen Tag geschildert hat, konnte ich vor einigen Jahren meiner Stasi-Akte (304 Seiten) entnehmen. Dass die Jungs von Erich Mielke mir den Decknamen „Vertreter“ gegeben haben, nehme ich ihnen heute noch übel. Wenn es euch interessiert, zitiere ich ein andermal ein paar Highlights aus der Akte. Fazit: ich bin damals haarscharf an 7 Jahren in Bautzen vorbeigeschrammt. Bartleby, das ewige Glückskind.  

Blaise Pascal +++ Psychiatrie +++ Corona-Demo +++ Ruprecht Polenz +++ Lokales +++ Duden +++ Augstein und Blome +++ Helmut Rahn +++ Werner Höfers Frühschoppen +++ Alexa

Kennt ihr Blaise Pascal? Wenn nicht, googeln! Er hat etwas sehr Kluges gesagt: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben.“ Er kannte Bartleby nicht. Geht schon seit langem nicht mehr raus. Keine Reise, kein Kino, kein Theater, kein Fußball, kein nichts. Nur schnell den Müll runterbringen und kurz zu EDEKA huschen. Das ist alles. Dann wieder verschanzen hinter Zeitungen, Büchern und dem Internet. Pascal gefällt das. Ich kenne wenige, die dadurch so viel zum Weltfrieden beigetragen haben wie Bartleby.

Bartleby fällt auf, dass immer mehr Straftäter nicht mehr zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden, sondern stattdessen in die Psychiatrie eingewiesen werden. Gibt es denn keine „normalen“ Räuber und Mörder mehr? Ein Grund für Bartleby, mal darüber nachzudenken, wer in die Pychiatrie gehört. Als der junge Bartleby noch wie der kleine Moritz dachte, hatte er eine genaue Vorstellung davon. In Berlin zum Beispiel waren das die Bonhoeffer Heilstätten, Betroffenen unter euch besser bekannt als „Bonnies Ranch“. Dort landeten Menschen, die einfach nur einen Sprung in der Schüssel hatten. Irgendwann aber wurde die Ranch zu klein. Heute werden auf dem Gelände von Verrückten teure Immobilien gebaut. Von wem auch sonst.

Aber wohin jetzt mit all denen, die nicht ganz dicht sind und mehr und mehr werden? Die klügsten Köpfe des Landes zerbrachen sich die Köpfe. Vergeblich. Da schlug die Stunde von Bartleby. Er schlug nach reiflicher Überlegung vor, das Überkommene einfach umzudrehen und gleich die ganze Welt zu einem Irrenhaus zu erklären. Dafür werden einige wenige Orte für Menschen mit Verstand und Vernunft reserviert. In Moabit, sagt man, soll angeblich auch so ein Haus stehen.

Auf einmal war für Bartleby alles ganz einfach. Politiker, Militärs, Religionen, Rassismus und Sexismus bekamen endlich den Platz in der Psychiatrie, der ihnen zusteht, Und die Menschen nutzen ihn. Bartleby hat sich heute im Internet und TV die große Corona-Demo in Berlin angesehen. Es war, als hätte man zu Zeiten von Bonnies Ranch mit den Patienten einen Betriebsausflug zum Brandenburger Tor und Reichstag gemacht.

Aufgerufen zu dem Ausflug hatte zum 2. Mal die Stuttgarter Gruppe „Querdenken 711“. Der Berliner Innensenator hat vieles richtig gemacht. Einen Fehler muss Bartleby ihm aber dennoch ankreiden. Er hätte die Demo nicht auf den üblichen Trampelpfaden der Innenstadt zulassen dürfen. Das nächste Mal, lieber Senator, schickst du die Patienten aus dem Schwabenland besser gleich zu ihren Verwandten nach Prenzlauer Berg. Da werden sie dann von den Müttern vom Kollwitzplatz mit den vollgeschissenen Windeln ihrer Gören bombardiert. Die Mütter haben jetzt den Part der Wilmersdorfer Witwen aus „Linie 1“ übernommen, die vor ihnen Berlin verteidigt haben.

Jens Spahn hat versucht, die Covidioten zu besänftigen. Mit den Erkenntnissen von heute, tröstete er sie, hätte man früher einige Maßnahmen nicht zu ergreifen brauchen. Ex CDU-General Ruprecht Polenz kommentiert trocken: „Mit den Erkenntnissen von Montag hätte ich meinen Lottoschein auch anders ausgefüllt.“ Bartleby wusste gar nicht, dass die CDU auch witzig sein kann. „Und? Wählste jetzt endlich auch mal CDU?“ Aber Leute, schon vergessen, wie der Wahlspruch von Bartleby lautet?

A propos witzig. Für seine Rubrik „Lokales“ hat Bartleby mal wieder ins Berliner Netz geschaut. Keine Angst, jetzt kommt nicht schon wieder die Geschichte von dem Nackten, der dem Wildschwein mit seinem Laptop hinterher rennt.

Das hier passt zu Corona: In den Berliner Gesundheitsämtern sind 15% der Stellen unbesetzt. Manchen Ämtern fehlt vor lauter Arbeit die Zeit, neues Personal einzustellen. Da lacht der Bär.

Berlin hatte ja den umwerfenden Stadtslogan „Be Berlin“. Jetzt müsst ihr euch einen neuen merken oder auch nicht: „Wir sind ein Berlin“. Soll ganz schön teuer gewesen sein. Kultursenator Lederer stellt die Frage: „Warum nicht „Berlin – irjendwat is´ immer?“ Guter Mann.

Ihr habt es sicher mitgekriegt. Vor kurzem haben die beim Duden ihr Wörterbuch aufgeräumt und dabei Bartlebys geliebten „Hackenporsche“ einfach so rausgeschmissen. Ein anderer enttäuschter Berliner schickte einen bitterbösen Tweet an die Sprachpolizei: „Ey, Dudenverlag, wieso ist Maskenmuffel, Erhöhtes Beförderungsentgelt, Busspurparker und Türfreihaikjesagtdukackvogel immer noch nicht in der neuen Ausgabe?“ Wie Berliner eben so sind.

Bartleby musste gerade wieder Abschied nehmen von einer seiner Lieblingssendungen im TV. Erst von Harald Schmidt und jetzt auch noch von „Augstein und Blome“. Kurze Info für diejenigen von euch, die nur das Unterschichtenfernsehen abonniert haben. Da kabbelten sich der ewige Linke Augstein vom „Freitag“ mit dem Cordjacket-Blome vom rechten Tittenblatt „BILD“. Das war stänkern auf hohem Niveau. Bartleby wird versuchen, sich mit „Heute-Show“ und „Die Anstalt“ noch eine Weile über Wasser zu halten. Zur Not hilft vielleicht Jan Böhmermann.

Wo wir gerade beim Fernsehen sind, erzählt Opa Bartleby schnell noch eine Geschichte aus seiner Jugend. In Berchtesgaden gab es kein Fernsehen und nach dem Umzug 1954 ins Eschweger Schloss auch dort keinen Fernseher. Das „Wunder von Bern“ also nur im Hörfunk: „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen. Rahn schießt. Tooor! Tooor! Tooor!“ Der junge Bartleby musste immer in die nahe „Pinke“, um dort Fußball zu sehen. Der Herr Landrat fand es aber nicht so passend, dass sein hoffnungsvoller Sprössling regelmäßig mit dem gemeinen Volk in einer Spelunke vor der Glotze saß.

Ein Fernseher musste her. Mutter Bartleby legte sich quer. So eine Kiste würde das Familienleben zerstören. Vater und Sohn ließen nicht locker. Schließlich gab Mutter nach. Ihre Bedingung: Aber am Sonntagmittag bleibt der Kasten aus, der ausgerechnet im Esszimmer stand. Also alle Augen nur auf Mutters Sonntagsbraten. Bartleby hätte aber genau um diese Zeit lieber Werner Höfers „Frühschoppen“ mit sechs rauchenden und saufenden Journalisten aus sieben Ländern gesehen. Eine harte Zeit, Mediathek gab es ja noch nicht. Jetzt wird euch klar, dass Bartleby eine wirklich schwere Kindheit hatte.

Muss ich euch noch sagen, dass Bartleby und sein eigener Sprössling später in Berlin fast immer vor dem Fernseher gegessen haben. Sogar Sonntag mittags. Beide natürlich getrennt vor ihrem eigenen. Frühes „modern living“.

Alexa, heute ausnahmsweise was Politisches?

Vergiss es!

Auch nicht über Gendern?

Was ist das denn?

Je nachdem, wie du dich fühlst, muss ich dich mit Mann, Frau oder divers anreden.

Warum das denn?

Die Leute wollen eben einfach wissen, wie es bei dir untenrum aussieht.

Aber Kennedy hat das damals doch auch nicht interessiert.

Wieso?

In seiner berühmten Rede vor dem Schöneberger Rathaus hat er gesagt: Heute, in der Welt der Freiheit, ist der stolzeste Satz „Ich bin ein Berliner“.

Das dürfte er natürlich jetzt nicht mehr.

Was müsste er denn heute sagen?

Na, ganz einfach: „Ich bin ein Berliner, eine Berlinerin und ein diverser aus Berlin.“

Das ist doch Schwachsinn.

Das sagst du. Andere nennen das politisch korrektes Gendern.

Wenn Trump nach Berlin kommt, wird er das sicher anders formulieren.

Trump soll ja divers sein.

Pervers! Trump ist pervers. Nicht divers. Du verwechselst da was.