Bartleby stochert gelegentlich in seiner nicht gerade aufregenden Vergangenheit herum. Jetzt stieß er dabei zwar nicht auf die heiße Affäre mit einer schönen Frau, aber auf einen Moment, in dem ihn der „Mantel der Geschichte“ (H. Kohl) gestreift hat. Wer es nicht glaubt, den könnte vielleicht dieser Newsletter-Extra interessieren.

In seiner frühen Allianz-Zeit hatte Bartleby ein enges Verhältnis zu seinem Chef. Wir unterhielten uns häufig über das Vorkriegs-Berlin, in dem er als Junge in kurzen Hosen seine Zeit bei der Allianz begann. Irgendwann kam mir die Idee, doch einmal die früheren Allianz-Gebäude im jetzigen Ost-Berlin zu besuchen und von dort vielleicht sogar ein Souvenir mitzubringen. Er war begeistert, durfte aber dienstlich nichts damit zu tun haben. Wer Bartleby kennt, weiß, dass er es dann auf die eigene Kappe nimmt, wenn es schief geht. 

Es ging aber alles gut und wenig später (Juni 1983) erschien von mir dieser Artikel in der „Allianz-Zeitung“, mit dem ich den Schwaben auch die Sehenswürdigkeiten Ost-Berlins nahebringen wollte. Heute haben die Schwaben selbst den Prenzlauer Berg besetzt und brauchen keine Tipps mehr von mir. „The times they are a changing.“  

Eine ganz und gar ungewöhnliche Stadtrundfahrt

Auf den Spuren der Allianz in Ost-Berlin

Ulrich Kubitz, Mitarbeiter der NL Berlin, machte sich auf, um über die alte Allianz in Ost-Berlin zu berichten. Die Dinge nahmen einen ungeahnten Verlauf.

Langsam kurve ich in meinem alten BMW um den Reichstag. Von den Wiesen steigen Rauchschwaden in den Himmel. Grillen und Fußball spielen, ein typisches Berliner Wochenende. Nächste Ampel rechts, und nach ein paar Metern passiere ich die Mauer, halte am Kontrollpunkt Invalidenstraße. Nichts vergessen? Ausweis, Visum, alles da. Kofferraum, Handschuhfach, alles leer. So aufgeräumt war der Wagen schon lange nicht mehr. Selbst die Micky-Maus-Hefte meines Sohnes mussten zu Hause bleiben. Im Handumdrehen habe ich die Papiere zurück, Geldumtausch, Zollabfertigung, dann geht die Schranke hoch. Hannoversche Straße. Viel Uniform vor dem Gebäude der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland. Friedrichstraße.Ein Schatten vergangener Jahre. Hier fällt er mir zum ersten Mal auf: ein hellgrauer Dacia, der seit einiger Zeit hinter mir herfährt. 

Was wollen die bloß von dir? Keine Ahnung. Ich parke am früheren Gendarmenmarkt, einem der schönsten Plätze des alten Berlin, und spaziere erst einmal los. Der ganze Platz ist eine riesige Baustelle. Deutscher und Französischer Dom, dazwischen Schinkels Schauspielhaus, stecken bis zum Dach in Gerüsten. Ich biege um den Bauzaun und warte.

Und richtig, der Dacia hält ganz in der Nähe. Zwei Männer steigen aus, mittleres Alter, weißer Mantel und brauner Parka, alles auffällig unauffällig. Warum in aller Welt beschatten die dich? Du wolltest dich doch bloß mal umsehen, wo die Allianz früher war. Beschreiben, was aus der Gegend geworden ist, die einmal zu den feinsten Adressen der deutschen Wirtschaft gehörte.Was stört den Staatssicherheitsdienst daran?

Ich gehe die Mohrenstraße hinunter, vorbei am ehemaligen Sitz der Direktion von Allianz Leben. Heute gehört das langgestreckte Haus dem Elektronikhersteller Robotron. Es macht einen ziemlich ungepflegten Eindruck, scheint sich aber sonst überhaupt nicht verändert zu haben. Einziger Farbtupfer ein paar Kinderzeichnungen am Fenster, der Hort des Betriebes. Der Ausblick durch die reichlich blinden Scheiben würde einem alten Allianzer sicher weh tun. Sein Blick fiele auf ein Mittelding zwischen Schrottplatz und Kohlelager.

Ein paar Schritte weiter das ehemalige Gebäude der Generaldirektion mit seiner markanten Säulenfront. Jetzt beherbergt es die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft und das Amt für Zivilverteidigung beim Ministerrat der DDR. Vor dem Haus Posten, die mich eindrücklich mustern, wie rechte Posten das halt so tun müssen.

Das muss es sein! Erst wenige Wochen ist es her, dass ich hier ein paarmal um den Block gefahren bin, mich umgesehen und Fotos gemacht habe. Und in dieser Gegend fällt man auf. Vor 45 Jahren pulsierte an dieser Stelle das Leben einer Weltstadt zwischen Wilhelmsplatz und Friedrichstraße. Heute gehört mir die ganze Mohrenstraße allein.

Oder doch nicht? Ich überquere die Straße  und stehe vor der Botschaft Nordkoreas. Überall Botschaftsangehörige, die eifrig Hof und Bürgersteig mit langen Reisigbesen fegen. So muss es heute noch in koreanischen Dörfern Brauch sein. Im Schaukasten lauter Bilder vom Großen Führer Kim Il Sung.

Und wer spiegelt sich da in den Scheiben? Richtig: der weiße Mantel und der braune Parka! Was nun? Die U-Bahn! Ich steige langsam die Treppe hinunter und gehe auf den leeren Bahnsteig. Spray an den Wänden: „ACDC“, „No future“ und das bekannte Signum der Hausbesetzer. Aber ich bin nicht in Kreuzberg, sondern auf dem U-Bhf Thälmannplatz in der „Hauptstadt der DDR“.

Ich gehe durch die Taubenstraße zurück, die heute Johannes-Dieckmann-Straße heißt, und setze mich in meinen Wagen. Wohin jetzt? Nach Grünau an die olympische Regattastrecke, wo das ehemalige Bootshaus der Allianz steht? Aber in der umgebauten „Keksdose“ residiert heute kein Geringerer als der Armeesportclub „Vorwärts“. Dort wimmelte es das letzte Mal schon von Uniformen. Das scheint mir heute keine gute Idee zu sein.

Dann schon lieber zum Palast der Republik, da verlieren sie dich vielleicht am ehesten aus den Augen. Unter den Linden. Vorbei am Alten Fritz und an der Neuen Wache, im Rückspiegel das Brandenburger Tor und natürlich meine Freunde von der Stasi. Im Palast ein Rockfestival, restlos ausverkauft. Ich entschließe mich zu einem Blitzbesuch im Dom gegenüber. Von einem Turmfenster aus habe ich einen hervorragenden Blick auf das Geschehen unter mir. Weißer Mantel und brauner Parka rennen vor dem Palast der Republik  auf und ab, gestikulieren, sind offensichtlich ratlos. Ein Typ in einer Lederjacke spricht mit ihnen, zeigt in Richtung Dom und kommt selbst herüber. Sie haben mich also doch wieder.

Vielleicht schaffe ich es im Pergamonmuseum. Dort kenne ich so ziemlich jeden Winkel. Außerdem habe ich neue Begleiter. Ein blauer Lada, junger Mann am Steuer, daneben ein älterer Herr mit Schiebermütze, könnten Vater und Sohn sein. Aber von Kultur scheinen sie nicht viel zu halten. Ich warte fast eine halbe Stunde am Ende der babylonischen Prozessionsstraße. Niemand kommt. Als ich das Museum wieder verlasse, stehen die beiden auf der Brücke und spucken in die Spree.

So langsam habe ich die Nase voll. Ein letzter Versuch: Der Dorotheenstädtische Friedhof an der Chausseestraße! Einmal um den Alexanderplatz, beschleunigen, bremsen, wenden, „Vater und Sohn“ im Lada immer hinterher. In der Friedrichstraße sind auch meine Freunde mit ihrem Dacia wieder da. Wir fahren Kolonne, vorbei am Luxushotel „Metropol“, dann ist auch schon der Friedhof da.

Jetzt! Ich trete voll auf die Bremse, Lada und Dacia scheinen total überrascht, fahren fast auf mich drauf und schleudern mit quietschenden Reifen vorbei. Auf dem alten Friedhof Steine mit berühmten Namen: Fichte und Hegel, auch Brecht und Heinrich Mann. Der Versuch, meine Gedanken zu ordnen. Dann die Idee!

Ich gehe zurück zu meinem Wagen und richtig, nicht weit davon parkt der blaue Lada. Ungläubiges Staunen bei „Vater und Sohn“, als ich einfach an die Scheibe klopfe. Langsam wird das Fenster heruntergekurbelt. „Übrigens, ich fahre jetzt ins Metropol einen Kaffee trinken. Sie sind herzlich eingeladen.“ Doch im Lada kommt keine rechte Freude auf. Ich höre nur ein mürrisches „Weitergehen!“ und schon ist die Scheibe wieder oben. So sitze ich dann allein im eleganten Metropol, schlürfe meinen Kaffee und habe endlich Zeit, darüber nachzudenken, womit ich wohl die geballte Aufmerksamkeit der Stasi verdient habe. Wenn es die Spuren der alten Allianz waren – sie sind verweht. Es muss etwas anderes sein. Ich habe da einen Verdacht.

Eine Stunde später wieder im Kontrollpunkt. Kofferraum auf, Sitzbank hoch, Kofferraum zu. „Schönen Abend noch“ wünscht der freundliche Grenzer und öffnet die Schranke. Eigentlich ein ganz normaler Tag in Berlin.

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Den Schluss meines Artikels hatte damals die Allianz Stuttgart zensiert und einen Satz gestrichen. Ein DDR-Grenzer durfte nach dem Selbstverständnis der Schwaben nicht „freundlich“ sein. Ein Grund für mich, meine Tätigkeit als Berlin-Korrespondent der „Allianz-Zeitung“ zu beenden. „Sofort! Unverzüglich!“ 

Wie die andere Seite diesen Tag geschildert hat, konnte ich vor einigen Jahren meiner Stasi-Akte (304 Seiten) entnehmen. Dass die Jungs von Erich Mielke mir den Decknamen „Vertreter“ gegeben haben, nehme ich ihnen heute noch übel. Wenn es euch interessiert, zitiere ich ein andermal ein paar Highlights aus der Akte. Fazit: ich bin damals haarscharf an 7 Jahren in Bautzen vorbeigeschrammt. Bartleby, das ewige Glückskind.  

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