„So, hab´s hinter mir. Bin erleichtert und mir geht’s bestens – jetzt ein Bierchen.“
Nee, das war nicht O-Ton Bartleby, das war Frank Zander, auch ein Ü80. Schade, dass wir uns nicht getroffen haben. „Nur nach Hause“ wären wir nicht gegangen, ist doch klar. Wie war denn das jetzt mit dem Impfen, will Alexa wissen. Du bist doch das größte Weichei, das ich kenne. Genau, und deshalb waren die letzten Wochen und Monate für mich die Hölle. Wann auch immer ich TV oder Internet eingeschaltet habe, sofort wurde jemandem eine Spritze in den linken Arm gejagt. Spritzen, Spritzen, Spritzen, ich konnte diese Bilder nicht mehr sehen. Ich habe seit etwa 30 Jahren einen Hausarzt. Wenn ich den besuchte, war es, als ob ich sein Wohnzimmer betrete. Keine Schränke voller Medikamente, keine Tische, auf denen Spritzen bereit liegen. Es gibt nur intensive Gespräche und danach das Gefühl, dass das mit meinem Wehwehchen schon wieder wird.
Hab dich nicht so, Bartleby, das ist doch nur ein Piks, höre ich euch sagen. Für euch vielleicht, aber nicht für mich. Der junge Bartleby litt nach dem Krieg an Traumata durch Bomben und Flucht. Dann kam noch ein drittes hinzu. Ich lebte als Schulkind fast zwei Jahre bei meinen Großeltern in Thüringen, Russische Zone. Grundschule. Nach Entlausen war Impfen dran gegen Diphterie. Antreten auf dem Schulhof mit freiem Oberkörper in Reih und Glied wie beim Militär. Dann stand der russische Militärarzt vor mir mit einer Spritze, gefühlt so dick wie ein Bleistift, und rammte sie mir mit Schwung, nein, nicht in den Arm, sondern mitten in die Brust. Klar, für ihn war ich nur ein Nazikind. Aber ein Schrecken, den der damals 8jährige Junge bis heute nicht vergessen hat.
Zurück zu meinem Impftermin. Das Gesundheitsamt hatte wohl bei mir beginnende Demenz vermutet und zwei Erinnerungs-Mails geschickt. Dann war er da, der Tag der Tage. Der Senat spendiert ja den Senioren, die sich zu gebrechlich fühlen, um mit ÖPNV oder eigenem Auto zum Impfzentrum zu fahren, die Hin- und Rückfahrt mit Taxen. Bartleby macht für sich den Gebrechlichkeitscheck. Überraschendes Ergebnis: ein Wrack. Darüber freut sich der Taxifahrer. Er macht die Tour offensichtlich nicht zum ersten Mal. An den Messehallen angekommen, bekomme ich von einem Taxi-Offiziellen gleich den Coupon für die Rückfahrt. Dann schmeißt mich mein Taxifahrer raus. Und jetzt?
Am Eingang warten mehrere junge Männer und Frauen in blauen Westen darauf, mich in das Impfzentrum zu lotsen. Alle strahlen mich freundlich an. Ich komme mir vor wie beim Evangelischen Kirchentag. Wem soll ich mich anvertrauen, Mann oder Frau? Um nicht gleich den Gender-Ultras Zucker zu geben und in die Schublade „alter sexistischer weißer Mann“ gepackt zu werden, entscheide ich mich schweren Herzens für einen netten jungen Mann. Tut mir leid, Mädels, aber die Zeiten sind nun mal so.
Dann beginnt der große Rundgang durch die Messehalle 21, in der „Grünen Woche“ immer der Stand von Brandenburg. Während ich mich dort in der „Grünen Woche“ immer durch die Massen kämpfen muss, werde ich jetzt alle paar Meter von einer blauen Weste zur nächsten gelotst. Bartleby spürt, wie so langsam Unwillen in ihm hochsteigt bei soviel demonstrativer Fürsorge. Pause. An einem Schalter ordnet ein junger Mann meine Papiere und geht mit mir noch einmal den Anamnese-Bogen durch. Ob ich noch ein Gespräch mit einem Arzt führen möchte? Nein, danke. Bei der Liste meiner Vorerkrankungen bin ich ja selber schon fast ein Arzt.
Weiter geht’s von Weste zu Weste bis in eine große Kabine. Hier muss es passieren. Bartleby, jetzt reiß dich zusammen. Ein Arzt kommt und bittet, den linken Arm freizumachen. Hat Bartleby tausendmal im TV gesehen und natürlich zuhause geübt. Beim 3. Hemd hat es geklappt. Nochmal kurz an den Russenarzt gedacht und Augen zu. —- Wie, das war´s schon? Herr Doktor, das war doch kein Piks, das war nur ein kurzes Kitzeln. Sind Sie sicher? Eine junge Frau in blauer Weste dokumentiert das Kitzeln in meinem Impfpass. Stempel des Arztes: Prof. Dr. F. Facharzt Diagnostische Radiologie. Ich wusste gar nicht, dass Radiologen mit Spritzen umgehen können. Habe ich jedenfalls bei meinen CT und MRT nicht erlebt. Egal, schon finde ich mich in der Lotsenkette wieder und soll in einem abgesperrten Terrain darauf warten, ob ich auf das Impfen allergisch reagiere. Mit mir sitzen da Dutzende von Gleichaltrigen auf Abstand. Ein Blick in die Runde. Fast alle lesen ein Buch, keiner starrt auf ein Smartphone. Old-Berlin at its best. Bartleby hat sich natürlich passend vorbereitet: Arthur Schopenhauer „Die Kunst, alt zu werden“. Lauter schöne Aphorismen wie dieser: „Man muss nur hübsch alt werden, da giebt sich alles.“ Wie wahr …
Die blauen Westen geleiten mich zum Ausgang und dann stehe ich vor meinem Taxi für die Rückfahrt. Ich lasse mich vor EDEKA rausschmeißen und hole mir im Weinregal aus der obersten Reihe einen nicht ganz billigen Bordeaux. Sorry, lieber Frank Zander, aber nur ein Bierchen wäre mir nach diesem Tag doch zu prollig. Am 31. März ist mein 2. Termin. Ich hoffe, der kitzelnde Professor hat dann wieder Dienst. Und die hübsche blaue Weste am Eingang natürlich auch.
Fazit dieses Tages: Wie ihr wisst, ist Bartleby, wenn es um das Bashing von Berliner Behörden geht, immer vorne dran. Das ist diesmal nicht möglich. Die Organisation des Impfzentrums und der Ablauf dort ist eine Meisterleistung, von wem auch immer. Gekrönt wird die gelungene Logistik von den zahlreichen Hilfskräften, deren Freundlichkeit fast vergessen lässt, dass es hier eigentlich auch um Leben oder Tod geht. Hier haben offenbar in der Verwaltung die richtigen Leute die richtigen Knöpfe gedrückt. Geht doch, Berlin! Überzeugt euch selbst davon, wenn ihr dran seid: Messehalle 21 am Funkturm (Biontech).
Es ist Abend geworden und der alte Mann aus Moabit trinkt sein erstes Glas Bordeaux. Dazu ein passender Aphorismus von Arthur Schopenhauer:
„Ermüdet steh´ ich jetzt am Ziel der Bahn,
Das matte Haupt kann kaum den Lorbeer tragen:
Doch blick´ ich froh auf das was ich gethan,
Stets unbeirrt durch das, was Andere sagen.“