Hallelujah! Bartleby hat es geschafft, einen Impftermin zu ergattern. Erster Versuch per Telefon: Endlosschleife. Dann also online. Wird ja sicher genauso einfach sein wie Theaterkarten bestellen. Du gibst deinen Code ein und wählst auf einem Kalender die freien Termine aus. Fertig ist die Laube, wie der Ü80 Berliner sagt. Pustekuchen oder denkste Puppe, wie meine Mutter gesagt hätte.
Statt bei der Gesundheitsverwaltung landest du bei einer Privatfirma, die Arzttermine mit allem Drum und Dran verwaltet und dich am liebsten auch gleich mit. Für diese Firma sind deine persönlichen Daten schließlich wichtiger als der ganze Corona-Kram. Nach mehreren Anläufen hatte ich es endlich geschafft. Ein Schnaps zur Belohnung. Aber dann eine Mail, dass mir noch während meines Buchungsvorgangs jemand anderes meine Termine geklaut hat. Noch mal von vorne bitte! War ich wirklich bei der Buchung eines Impftermins oder bei Ebay?
Warum können Berliner Behörden nicht das, was kleine Theater können? Warum übertragen sie die wichtigsten Aufgaben für ihre Bürger privat-wirtschaftlichen Unternehmen, die ganz andere Interessen haben? Ich sags euch. In meinem Soziologie-Studium habe ich gelernt, dass sich die Belegschaft von großen Firmen und Mitarbeitern von Behörden grob in drei Gruppen einteilen lässt: Der ersten Gruppe brauchst du nicht zu erklären, was sie zu tun hat. Sie weiß es und macht es. Die zweite Gruppe ist nicht ganz so helle, schafft aber ihren Job, wenn du ihr zeigst, wie das geht. Die dritte Gruppe besteht hauptsächlich aus Menschen, die intellektuell überfordert sind, Leistung nicht erstrebenswert finden oder innerlich schon gekündigt haben. Im Amerikanischen nennt man sie „dead wood“, totes Holz.
Das erinnert mich an meine ordnungsliebende preußische Mutter. Wenn ich mit ihr im Wald spazieren ging, zeigte sie empört auf abgebrochene Äste und Gestrüpp: „Kann denn das nicht mal jemand aufräumen?“ Mutter ist schon lange tot. Ich hätte heute gerne mit ihr unsere Gesundheitsverwaltung besucht. Besser nicht, sie hätte ihre Worte von damals vermutlich wiederholt.
Das ist euch ja sicher auch schon aufgefallen, dass Bartleby mit dem gerade gehypten Genderkram nicht viel am Hut hat. Wie kommt das? Spurensuche. Natürlich gab es auch in Eschwege Mädchen, sagt man jedenfalls. Aber keine von ihnen hat mich je angerufen und zu einer Keller-Party eingeladen. Das Telefon hat immer nur bei meinen Klassenkameraden geklingelt. Ich will hier keine Namen nennen, die Betreffenden wissen schon, wen ich meine. Die Erste, die meine Heterosexualität bemerkte, war meine Mutter, als ich sie bat, mir im Bad nicht mehr den Rücken zu schrubben. Ich hatte den Eindruck, sie war beruhigt. Dieser kleine Erfolg machte Mut. Bartleby kaufte die nächst gelegene Drogerie leer: Old Spice, Rasierwasser, Haarwasser, Pomade für die Elvis-Tolle und Tam Lo für die gesunde Bräune. Perfekt. Und was war das Ergebnis? Die Mädels machten große Augen und drehten auf hohen Absätzen um. Warum? Weil die Schmierfinken von „BRAVO“ sie vor mir gewarnt hatten: Die schönsten Männer seien meistens auch schwul. Rock Hudson, Rex Gildo und andere.
In Eschwege konnte ich also meine gerade entdeckte Heterosexualität nicht ausleben, also ab nach Kassel auf die Waldorfschule. Dort lasen meine Klassenkameradinnen schon lange nicht mehr BRAVO, sondern Henry Miller. Es kam natürlich wie es kommen musste. Mein Birkin-Haarwasser habe ich dort nicht gebraucht. Habe es noch heute. Vielleicht komme ich damit ja im Altersheim noch einmal groß raus.
Und, Bartleby, wie siehst du dich heute in der ganzen Gender-Hysterie aufgestellt? Vielleicht so: eine schlampige Hausfrau im Körper eines unverbesserlichen Heteros. Wie nennt ihr das genderkorrekt?
Wie ihr wisst, lässt Bartleby ja keine Sternstunde Philosophie in SRF Kultur aus. Letztens hat er dem Historiker Yuval Harari zugehört. Ein Satz ist ihm besonders hängengeblieben: „Der Mensch ist eigentlich nur ein Algorithmus.“ Ein Grund, darüber nachzudenken, was die Algorithmen eigentlich alles über ihn wissen. Als frommer kleiner Junge war Bartleby wirklich davon überzeugt, dass der liebe Gott alles sieht, was er macht, auch nachts im Bett unter der Decke. Eine schreckliche prägende Vorstellung. Aber nichts gegen Algorithmen. Beispiele:
Bartleby will wissen, wann die nächste Documenta in Kassel stattfindet. Zuerst antwortet das Netz ganz brav, aber dann! Ich werde überschwemmt mit Filmen über die furchtbare Bombardierung von Kassel 1943 und als wäre das noch nicht genug. auch noch mit Filmen über das zerstörte Chemnitz von 1943.
Ich war damals vier Jahre alt und wurde im selben Jahr in Berlin zum ersten Mal ausgebombt. Ich habe es überlebt und ein zweites Mal in Potsdam auch. Wer es nicht überlebt hat, war eine ganze Schulklasse meines späteren Gymnasiums in Eschwege. Die armen Jungs wurden vor dem Angriff nach Kassel gebracht und sollten dort bei der Flak aushelfen. Fast die ganze Klasse kam bei dem Angriff ums Leben. Ich habe in all meinen Jahren auf der Friedrich-Wilhelm-Schule nicht ein einziges Mal erlebt, dass es eine Gedenkstunde für diese Schüler gegeben hätte. Immerhin aber hatte man inzwischen das große Hitlerportrait in der Aula abgehängt. Immerhin.
Bartleby hatte schon vor seinem Abitur im geschundenen Kassel viel Sympathie für die Stadt. Unfassbare 97 % der historischen Altstadt mit all ihren Fachwerkhäusern versanken in Schutt und Asche. Und warum? Weil „Bomber-Harris“ testen wollte, ob sich Brandbomben am besten eignen, alte Innenstädte mit ihren engen Gassen zu zerstören. In Dresden hat er noch kurz vor Kriegsende gezeigt, was er aus Kassel gelernt hat.
Nein, versteht mich bitte nicht falsch. Ich habe Coventry nicht vergessen und auch nicht Rotterdam, Warschau und andere Städte. Solche Figuren wie „Bomber-Harris“ gab und gibt es in allen Kriegen. Sie brauchen Kriege, um sich auszuleben und die Kriege brauchen solche wie sie. Ohne sie wären sie ein Nichts.
Mein Gott, welch eine Wendung hat dieser Newsletter genommen. Aber manchmal überkommen mich Erinnerungen, gegen die ich machtlos bin. Sorry. Vielleicht hilft ein neuer Algorithmus. Bartleby wollte mal wieder von Hannes Wader „Viel zu schade für mich“ hören. Kennt ihr? Das Mädchen, dass immer Kniffe in seine Sofakissen machte.
Die Kissen habe ich heute noch. Die Kniffe muss ich jetzt aber selber machen. Nur, es ist nicht dasselbe.
Nach dem Song haben mich die Algorithmen zugeschüttet mit Volksliedern von Hannes Wader. Diese Seite von ihm kannte ich so noch gar nicht. Das erinnerte mich an die Oma meiner Kindheit in Schlesien und Thüringen. Radio gab es für sie nicht. Dafür sang sie den ganzen Tag Volkslieder, vor allem in der Küche. Beim Gänse rupfen, Blutsuppe rühren, beim Abwasch und beim Strümpfe stopfen. Und immer mit einer herrlichen, glasklaren Stimme. Tag für Tag. Der kleine Bartleby kannte bald alle Volkslieder auswendig.
Dann kam er auf die Ev. Volksschule Berchtesgaden. Wir waren 53 Kinder in der Klasse und unsere Lehrerin hieß Fräulein Dörge. Wir sollten Volkslieder lernen. Wer kennt „Der Mond ist aufgegangen?“ Bartleby, damals noch die personifizierte Naivität, hebt den Arm. Er war der Einzige. Fräulein Dörge kam zu ihm, legte ihm ihren Arm auf die Schulter und meinte „Dann sing doch mal für uns die erste Strophe.“ Bartleby wäre am liebsten auf der Stelle im Königssee ertrunken. Aber da war ja noch Christel Fröhlich mit den blonden Zöpfen und der schönsten Stimme der Klasse. Das war die Chance seines Lebens. Er sang wie damals in Omas Küche: „Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar. Der Wald steht schwarz und schweiget und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar“. Fräulein Dörge war gerührt. Sie hat Bartleby und Christel in den Schulchor geschickt. Wir sind sogar einmal bei Radio Salzburg aufgetreten. Ich hab dann irgendwann Christel aus den Augen verloren. Glaubt es mir oder nicht, aus uns beiden hätte ein Paar wie Cindy und Bert werden können.
So, Schluss für heute und mit den verdammten Algorithmen. „Its midnight in Europe“ verkündete um diese Zeit immer die markante John-Wayne-Stimme vom AFN der 60er Jahre, Und dann begann Musik jenseits von Freddy Quinn und Vico Torriani. Heute Abend aber Hannes Wader von 1990 mit „Ade zur guten Nacht“.
Auf dem Klassenfoto habt ihr den kleinen Bartleby sicher sofort erkannt, rechts wie auch im späteren Leben immer am Rand stehend. Wer genauer hinschaut, sieht auch, dass er in seiner linken Hosentasche eine Blechbüchse aufbewahrt. Sie war sein kostbarer Ersatz fürs Fußball spielen auf dem Schulweg. Seine alleinerziehende Mutter hatte damals kein Geld für einen richtigen Ball. Aber für ein Kriegskind war das kein Problem. Und wer ganz genau hinschaut, sieht, das zwei Jungs ganz vorne barfuß in die Schule kommen mussten. Was bedeutet da ein fehlender Fußball?
