#16

Hallo Fritz, hallo Reinhold, hallo followers,

Bartleby hat noch die Stimme von Herbert Zimmermann im Ohr: „Aus dem Hintergrund kommt Rahn. Rahn müsste schießen. Rahn schießt. TOOOR! 3:2 für Deutschland!“ Das war 1954 in Bern. Seitdem hat er nicht mehr so gespannt vor dem Radio gesessen wie diesmal bei der Relegation zur Bundesliga. Eisern Union! Das habt ihr doch hoffentlich mitgekriegt, wie unsere tapferen Ossis aus Köpenick den VfB Prenzlauer Berg in die 2. Liga geschickt haben. Jetzt hat Berlin als einzige Stadt zwei Vereine in der 1. Bundesliga. Fußball- Hauptstadt Berlin. Uli Hoeneß muss jetzt zweimal nach Berlin reisen: Höchststrafe!

Vor der Europawahl hatten sich die selbsternannten Volksparteien vor meinem Supermarkt aufgebaut. Sie belagerten mich mit Kugelschreibern und Flyern und wollten, dass ich mein Kreuz bei ihnen mache. Aber Bartleby sagte wie immer „Ich möchte lieber nicht“ und wählte dieses Mal „Die Partei“. Natürlich halten ihn die meisten Leser dieses Newsletters deswegen für einen Verrückten. Aber der verrückte Bartleby war in dieser verrückten Stadt damit nicht der Einzige. Nur mal so das Ergebnis aus dem Bezirk Friedrichshain/Kreuzberg: „Die Partei“ 8,9 %, CDU und FDP zusammen 8,3 %. Noch Fragen?

Meine Grünen haben mächtig abgeräumt. Größte Zustimmung bei den unter 60jährigen. CDU und SPD verschanzen sich in den Altersheimen, denn immer noch gibt es mehr Wähler über 70 als unter 30. Jetzt noch das Wahlalter auf 16 Jahre senken und durch das Land würde endlich frische Luft wehen, als hätte man alle Fenster gleichzeitig geöffnet. Bartleby, der Träumer.

Jetzt wird’s grün. Wenn es mit mir demnächst vorbei ist, will ich eine Feuerbestattung. Den Platz für die Urne habe ich schon lange gepachtet. Jetzt höre ich, dass dann aber mein ökologischer Fußabdruck ein ganz schlimmer ist. Das Krematorium erzeugt mit meiner Verbrennung einen CO2-Ausstoß, der einem Flug von mir von Berlin nach Köln entspricht. Leute, was soll ich denn dann noch in Köln?

Thema Insektensterben. Die armen Tierchen. Könnt ihr euch noch erinnern, dass wir früher so klebrige Rollen in der Küche aufgehängt haben? Die Fliegen blieben natürlich daran hängen, zappelten eine ganze Weile um ihr Leben und manche von ihnen fielen dann tot und klebrig in das Essen auf dem Tisch. Macht heute keiner mehr. Wir haben ja jetzt Sprays. Ich will der Evolution ja nicht vorgreifen, aber ich habe das Gefühl, dass es eine Zeit geben wird, in der uns die Fliegen mit Sprays umschwirren werden. Darwin, was meinst du?

Tassilo hat vor kurzem stilvoll seinen 50. Geburtstag gefeiert. Das Gleiche macht jetzt das „Grips-Theater“ mit Volker Ludwig bei mir um die Ecke. Ich habe damals mit dem Jungen jedes Stück besucht. Und im Kinderzimmer lief der Hit „Dumm wird man nicht geboren, dumm wird man gemacht!“ rauf und runter. Natürlich auf Kassette. Weiß noch jemand, was das war?

Die Berliner CDU war damals undercover im Theater und forderte, die finanzielle Unterstützung für diese Revoluzzer sofort einzustellen. Außerdem sollten Schulklassen keine Vorstellungen mehr besuchen dürfen. Aber sie hatten die Rechnung ohne die 68er gemacht. Noch heute schleppe ich jeden Berlin-Besucher in „Linie 1“ oder „Eine linke Geschichte“, wenn es der Spielplan möglich macht.

Groteskes von der Schwabenfront I: Im Mauerpark gibt es seit vielen Jahren eine bei Touristen sehr beliebte Karaoke-Bühne. Jetzt droht das Aus! Es sei denn, der Schall würde in Zukunft nur nach Osten (!) dringen. Im Westen des Parks sind nämlich Neubauten entstanden und die Mieter dort fühlen sich beim Betrachten ihrer Katzenvideos empfindlich gestört.

Groteskes von der Schwabenfront II: Holzmarkt an der Eastside-Gallery. Schon lange ein attraktives alternatives Kultur-Zentrum an der Spree. Jetzt plötzlich: Kein Bier mehr nach 21 Uhr. Und warum? Als Berlin-Kenner ahnt ihr es. Richtig! Auf der anderen Seite der Spree sind Neubauten entstanden. Die Leute wollen doch einfach nur ihre Ruhe haben. Auf der Alb sind sie um diese Zeit eben noch mal in den Stall gegangen und haben mit Schafen und Ziegen gekuschelt. Wann werden sie auf dem Kudamm die Kehrwoche einführen?

Dazu ein Kommentar von Lars Eidinger, Schauspieler („Hamlet“, „Richard III“) und Hobby-DJ: „Erst, wenn die letzte Party geräumt und der letzte Club geschlossen ist, werdet ihr merken, dass Berlin zu dem Kaff geworden ist, aus dem ihr gekommen seid.“ Sein Act bei einer Feier in der Münzstraße in Mitte wurde von der Polizei wegen Ruhestörung abgebrochen. Es kommentiert ein wütender Bartleby: „Berlin wird langsam so wie Eschwege, nur mit mehr Hundehaufen.“

Jetzt wird’s haarig. Bei meiner Recherche zu Tassilos 50. Geburtstag stieß ich auf Fotos, die ihn als kleinen Jungen mit voller Lockenpracht zeigen. Auf dem Spielplatz erregten sich immer wieder um ihren Nachwuchs besorgte Mütter über das vermeintliche Mädchen: „Na du Kleine, wo ist denn deine Mutti?“ Das hatte dann schnell ein Ende, als der arme Kerl das erste Mal ein paar Tage bei seiner Oma in Eschwege verbrachte. Sie hat ihn sofort zum Friseur geschleppt und ehe er sichs versah, waren die Locken runter und er sah aus wie der junge Philipp Amthor, nur ohne Brille. Oma war selig, aber das war sein erster und letzter Besuch bei ihr.

Mir ging es in seinem Alter ähnlich. Nachkriegszeit in Berchtesgaden. Die Wohnung meiner Eltern war gleichzeitig Anwaltskanzlei. Die Küche war auch Wartezimmer für die Mandanten und der Küchentisch der Platz für meine Hausaufgaben. Um mich herum die halbe Entourage, die Hermann Göring aus Berlin mitgebracht hatte, vom Förster über den Kammerdiener bis zu seinem Friseur. Der packte dann ab und zu sein Köfferchen aus, griff zu Kamm und Schere und schnitt mir in der Küche die Haare. Danach sah ich immer aus wie ein Pimpf der Hitlerjugend. Mutti war selig, Fortsetzung siehe oben.

Ihr hattet noch nichts zum Lachen? Keine Angst, kommt jetzt. Habe ich aber bei einem Kabarettisten geklaut: „Stellt euch unsere Erde vor ohne den Menschen. Aber dann gäbe es doch keinen Naturschutz.“ Findet ihr nicht lustig? Das wäre ein guter Anfang.

So, zum Schluss noch ein Glas vom leichten Roten aus Baden-Württemberg. Es kommentiert Kurt Tucholsky: „Schade, dass man Wein nicht streicheln kann“. Aber dafür gibt es ja Katzen wie Pouline.

Bartleby wünscht frohe Pfingsten. Wisst ihr eigentlich alle, was ihr da feiert? Googeln gilt
nicht.

#15

Lieber Fritz, lieber Reinhold, hallo Fans,

Sonntag ist Europa-Wahl. Ich wähle schon lange nicht mehr, aber jetzt mache ich eine Ausnahme und kein Geheimnis daraus. Und wen? Na, ist doch sonnenbornklar: DIE PARTEI („Für Europa reicht ́s“). Nennt mir ein Gremium in der EU außer dem Parlament, das demokratisch gebildet wurde. Tut mir leid für dich, Kevin Kühnert, aber du musst erst einmal deinen Laden gründlich aufräumen. Rentner wie ich kennen keine Gnade.

Jetzt aber schnell zu Youtube. Normalerweise sehe ich mir dort nur drollige Katzenvideos an. Aber die können auch anders. Nehmt euch bitte mal eine knappe Stunde Zeit und schaut euch dort das großartige Video „Die Zerstörung der CDU“ vom jungen Youtuber Rezo an. Einfach grandios, der junge Mann, zu Recht millionenfach angeklickt. Mir fällt außer Georg Schramm niemand ein, der die Verkommenheit der BRD, ihr Vasallentum und die Inkompetenz bestimmter Politchargen so gnadenlos entlarvt hat. Und die eingefleischten Mutti-Fans unter euch kann ich beruhigen: auch die SPD kriegt ihr Fett ab. Und wer will, kann sich danach ja jede Menge Katzenvideos ansehen und seine Welt wird wieder zu Friede, Freude, Eierkuchen.

Neulich bekam ich eine rätselhafte SMS: „Niemand außer Allah ist der Anbetung würdig!! Entweder ihr konvertiert zum Islam oder ihr seid Brennstoff der Hölle.“ Ich habe versucht, zurückzurufen (+491785005930), aber Mohamed ging nicht ran. Er war wohl wieder mal mit Aischa, seiner sechsjährigen Lieblingsfrau zugange. Also gut, ich gehe in die Hölle. Schlimmer als ein Abend mit Uli Hoeneß kann es nicht werden.

Mit normalen Menschen habe ich ja kaum noch persönliche Kontakte, dafür umso mehr in den sozialen Netzwerken. Habe heute gerade wieder eine Resolution unterstützt: Bußgeld für Falschparker drastisch erhöhen, von 20 Euro auf 100 Euro. Ja sorry Jungs, aber in anderen europäischen Ländern kostet das noch viel mehr. Warum? Auf meiner Rentnerstreife durch den Kiez fällt mir immer wieder dasselbe Auto auf, das genau an der Kreuzung parkt und den Gehweg völlig versperrt. Die alten Damen mit ihren Rollatoren und die Mütter mit ihren Kinderwagen sind gezwungen, immer über die Straße auszuweichen. Ich habe mir im Internet passende Aufkleber besorgt und pappe diesem Vollpfosten immer wieder seine Scheiben zu. Glaubt ihr, das stört ihn? Nach seinem Kennzeichen (BAR) kommt er aus Barnim, eine trostlos verwilderte Gegend ohne Gehwege nördlich von Berlin. So Ossi, jetzt wollen wir doch mal sehen, wer den längeren Atem hat. Demnächst ist die Luft aus deinen Reifen dran. I

n Berlin fehlen Kitas. Nicht nur ein paar, sondern jede Menge. Entsprechend ist das Gerangel. Manche Eltern sollen jetzt schon ihre Kinder vor der Zeugung anmelden. Ein Vater versprach 5.000 Euro für einen Platz, ein anderer eine Wohnung, egal wo. Leute, geht’s noch! Ich habe 10 Jahre das „Kinderkollektiv 70 eV.“ geleitet, den zweitältesten Kinderladen der Stadt. Von Eltern auf die Beine gestellt, finanziert mit einem freiwilligen Beitrag und von einem antiautoritären Konzept geprägt für 30 Kinder in drei Gruppen. Den Kids hat es nicht geschadet, fragt Tassilo.

Wir blieben nicht der einzige Kinderladen. Und was erlebe ich heute? Wo bleiben die Eltern, die nicht nur reflexartig nach dem Senat schreien („Aber wir haben ein Recht!), sondern noch einmal unseren Weg gehen? Kriegt endlich mal den Arsch hoch! Leere Läden gibt es genug in der Stadt. Vielleicht liegt es auch nur an veränderten Vorschriften. Heute müssten wir wohl zwei Toiletten für die Kleinen bereitstellen, eine für alle, die schon allein ihr Häufchen machen können und eine für die anderen, die dafür noch eine helfende Hand brauchen. Oder besser gleich drei: eine für Jungs, eine für Mädchen und eine für Diverse. Ich glaube, unsere Kids haben es genossen, einfach nur lustvoll zu kacken, egal wo und wie, statt sich dabei ihr Köpfchen über Genderquatsch zuzerbrechen.

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich beobachte schon seit längerem eine wachsende Vollkasko-Mentalität in der Gesellschaft. Staat, Senat, Bezirk, jetzt macht doch mal was für uns! Das finde ich nicht nur bei dem Ruf nach Kitaplätzen. Das gibt es auch bei mir im Haus. Die Dachgeschosse sind fertig, die neureichen Mieter sind eingezogen. Der Paketbote klingelt beim diensthabenden Rentner und gibt ein Päckchen ab, Klamotten für eine Melanie von ganz oben. Melanie lässt eine Woche nichts von sich hören. Bei jedem Klingeln renne ich zur Tür, es sind aber immer nur irgendwelche Werbefuzzis, die meinen Briefkasten vollmüllen. Das muss ein Ende haben.

Heute entscheide ich mich, nach oben zu gehen und das Päckchen bei Melanie abzugeben. Vielleicht hat ja der Paketbote einen Fehler gemacht. Oben ist alles neu, alles chic. Ich suche Melanies Wohnung. Das ist dumm. An drei der vier neuen Dachgeschoßwohnungen gibt es keine Namen an den Klingelschildern. Vollkasko-Melanie wartet sicher darauf, dass ihr die Hausverwaltung irgendwann todschicke Namensschilder schickt. Bis dahin hilft ja der doofe Rentner. Auf die Idee, sich provisorisch ein Namensschild an die Tür zu kleben, kommt Madame einfach nicht. Eigeninitiative und Vollkasko-Mentalität schließen sich aus.

Ich werde ihr morgen eine Karte in den Briefkasten stecken mit ein paar Worten, die sie sich hinter den Spiegel stecken kann. Jedesmal, wenn sie die neuen Klamotten anzieht, wird sie an den bösen alten Mann denken. So hübsch kann sie gar nicht sein, dass ich mich dafür entschuldige. Das wird der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Im Berliner Fernsehen läuft gerade eine Dokumentation über die 60er und 70er-Jahre in beiden Teilen dieser Stadt. Natürlich geht es um die 68er, um Rudi Dutschke und die Anfänge der RAF. Aber auch an das Private wird erinnert. Es war die Zeit, in der Monika und ich uns vor allem von Schmalzfleisch aus der Senatsreserve ernährten. Aber das Ganze mit Stil: Monika in durchsichtiger Bluse und ich mit Fußkettchen. Ein Hauch von Woodstock sollte schon sein.

Eigentlich sollte dieser Newsletter ja ein rein Berliner werden. Also los! Ständig beschweren sich Berliner und Touristen darüber, dass die Stadt zu dreckig sei. Mich stört das nicht. Aber Berlin kann auch anders: Im Prenzlauer Berg gibt es eine Tramhaltestelle, die ist so blankpoliert und rein, dass sich Rentner (nicht ich) regelmäßig an den Scheiben den Kopf stoßen. Ja, wie denn nun?

Auch das ist Berlin: Auf der Damentoilette in einem Berliner Nobelrestaurant: „Meine Mutter hat im Prenzlberg eine Wohnung gekauft, da sind aber noch zwei Mieter drin. Jetzt überlegen wir, wie wir die rauskanten. Vielleicht über Eigenbedarf und ich ziehe zum Schein für ein paar Monate ein. Jedenfalls stellen wir ihnen erstmal für zwei Tage das Wasser ab.“ (Tagesspiegel)

„Ich habe doch auch Eigenbedarf.“ Elena B., 92 Jahre alt, soll ihr Zuhause nach 40 Jahren verlassen. (Süddeutsche Zeitung)

„Beim Betteln an der Ampel stehn,
Auf Krücken aus der U-Bahn gehn,
des Nachts die Autos brennen sehen,
das heißt für mich: Berlin verstehen.“
(Oliver Kalkofe)

Komm Oliver, wir gehen einen saufen.
Ulrich

#14

Hallo Fritz, hallo Reinhold, hallo Fans,

ein paar Aufgeklärte unter euch wissen, dass ich 1978 mit Monika die Grünen mitgegründet habe (Mitglied Nr. 253). Was ihr aber nicht wisst ist, dass solche 68er- Typen wie wir beide daran Schuld sind, dass es in der katholischen Kirche zu massenhaftem Missbrauch an Kindern gekommen ist. Das ist jedenfalls die Erklärung dafür von Georg Ratzinger, Priester und Bruder des Ex-Popen Benedikt XVI. Was soll der Quatsch? Die Schlagzeile „Lasset die Kindlein zu mir kommen“ habe ich jedenfalls nie in der TAZ gelesen.

Das ist euch doch wohl klar, dass Ratzingers Vorgänger mich früher auf dem Scheiterhaufen verbrannt hätten. Ja, manchen von euch wäre es vielleicht recht gewesen, dann hätten die ganzen Bartleby-Newsletter ein Ende. Giordano Bruno (Wikipedia hilft!) hatte damals nicht so viel Glück. Er starb 1600 in Rom auf dem Scheiterhaufen. Hatte er etwa kleine Kinder missbraucht? Gott bewahre, dafür würde die Kirche doch keinen Priester verbrennen. Was dann? Er hatte die Unendlichkeit des Weltraums gelehrt und die ewige Dauer des Universums. Da blieb natürlich kein Raum für Jenseits, Schöpfung und Jüngstes Gericht. Elke hat für mich bei ihrem Rom-Besuch eine Rose an seinem Denkmal niedergelegt. Danke dafür.

Es wird euch nicht wundern, dass ich seit einigen Jahren Mitglied der Giordano- Bruno-Stiftung bin („Heidenspaß statt Höllenqual“). Was wir fordern: Klare Säkularisierung wie in Frankreich, weg mit der Kirchensteuer und der Bezahlung der Bischöfe aus den Steuern aller Bürger, egal, ob sie gläubig sind oder nicht. Keine Angst, Weihnachten dürft ihr immer noch in eure Kirche gehen. Wir lassen sie stehen als Mahnmal an eine dunkle Zeit vor Kant, Nietzsche und Schopenhauer.

Ihr schüttelt den Kopf. Was ist denn mit dem los? Sollte er sich nicht lieber, statt sich auf die Kirche, endlich einmal auf seine Wohnung konzentrieren. Zum Beispiel Staub saugen, sich um Küche, Bad und Wäsche kümmern und Fenster putzen. Aber Bartleby sagt: Ich möchte lieber nicht. Er muss ja nicht vom Fußboden essen und beim Blick aus dem Fenster reicht es ihm, dass er erkennt, ob es Sommer oder Winter ist. Ihr seid da natürlich ganz anders. Ein guter Psychologe könnte euch erklären, warum ihr so tickt. Aber das wollt ihr besser nicht wissen.

Die „Reichsbürger“ sind ja jetzt schwer im Kommen. Ich kenne sie schon seit meinen Allianz-Zeiten. In den 90ern beschwerte sich der Berlin-Bevollmächtigste des Reiches bei uns und verlangte, die Leistung einer Lebensversicherung so zu berechnen, als ob das Reich noch fortbestünde, obskure Dokumente beigefügt. Mein Chef übergab mir das Schreiben mit den Worten „Kubitz, das ist doch wieder mal ein Fall für Sie“. Wie kam er nur darauf? Ich habe dem Reichsbürger-Führer geantwortet, wie es so meine Art ist. Eine Mischung aus Karl Kraus und Jan Böhmermann. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört.

Welche Verschwörungstheorien kennt ihr denn so außer Lügenpresse, Chemtrails und Impfpflicht? Diese vielleicht: Die Welt wird von einer kleinen Gruppe alter weißer Männer regiert. Aber Leute, das ist doch keine Verschwörungstheorie, genau so ist es.

A propos Impfpflicht. Am liebsten befreunde ich mich mit Impfgegnern – da hat man soziale Kontakte, ist aber nicht allzu lange an sie gebunden.

Berlin ist nicht nur die Hauptstadt der Versager, sondern auch die Hauptstadt der Ornithologen. Wusstet ihr, dass in Berlin mehr Nachtigallen leben als in ganz England, nämlich 3000? Wie kommt das? Die Forscher sagen, Nachtigallen verhalten sich wie Touristen. Sie gehen dahin, wo der „place to be“ ist und das ist eben nun mal Berlin. Die Touristen wollen alle ins Berghain, die Nachtigallen alle in die Berliner Parks. Da machen sie dann genau das, was Touris im Drogen-Tempel auch machen. Muss ich das noch weiter ausführen?

Ich lebe am Rande des Tiergartens und höre ihnen jeden Tag, jede Nacht zu. Endlich was Anderes als das, was das Spatzen-Prekariat tagsüber so von sich gibt. Sie sollen sogar, so die Forscher, über verschiedene Berliner Dialekte verfügen. Je nach Bezirk trällern die Nachtigallen unterschiedliche Melodien. In Kreuzberg mehr Techno, in Neukölln mehr Battle-Rap. Bei mir in Moabit wohl eher Helene Fischer.

Weil ihr ja schon förmlich darauf wartet, zum Schluss noch etwas Berliner Lokalkolorit. Mark Twain, die Älteren erinnern sich, lebte mal eine Zeitlang in Berlin. Sein Fazit: „Ich glaube nicht, dass es irgendetwas auf der ganzen Welt gibt, was man in Berlin nicht lernen könnte – außer der deutschen Sprache!“ Mein running gag in meinen Schriftverkehr-Seminaren.

Wir hatten ja mal in Berlin einen Kaiser. Jetzt ist er weg. Seine hiesigen Verehrerinnen haben sich als Ersatz das englische Königshaus ausgesucht. Anlässlich der Geburt von Baby Sussex schlagen die Wellen hoch:

Archie Harrison! Da ist doch der Lebensweg schon vorgezeichnet. Der schwängert mit 16 eine Schantalle und bricht die Schule ab. Nee, ich glaube das noch nicht.

Das darf die Elisabeth nicht zulassen. Am Ende wird noch ein Fußballer Taufpate, oder was?“ Das schreibt eine besorgte Berliner Twitterin – im Alter von 82 Jahren! Wenn ihr jung bleiben wollt, kommt in diese Stadt.

Der Rausschmeißer: Neulich bei der Mai-Demo in Kreuzberg. Ein Autonomer pinkelt an eine Eingangstür. Laute Stimme vom Balkon: „Ey, Alter, kannste auch bellen?“

Alles Gute, Jungs und Mädels.
Ich grüße Jürgen Klopp und Kevin Kühnert.
Ulrich

#13

Hallo Fritz, hallo Reinhold, hallo Fans,

Blick zurück in die 60er Jahre. Bartleby machte sich mit dem 2CV von Monika von Marburg aus ins Exil nach West-Berlin auf. Die DDR-Grenzer winkten mich freundlich durch. Wieder einer weniger, der für den Klassenfeind in Bonn ins Feld ziehen könnte.

Die Zeit in West-Berlin war wie die in einem Paradies, die beste Zeit in meinem Leben. Bundeswehr und Mutter weit weg. Bis die Wende kam. Die armen Ossis seien die großen Wendeverlierer, hieß es immer. Stimmte ja auch. Aber dann schlug die Wende ein zweites Mal zu. Jetzt besetzten die Schwaben und das mit ihnen verbündete Kapital die wehrlose Stadt. Immobilienhaie tummelten sich in jeder Berliner Pfütze. New York, London, was die können, das können wir hier schon lange.

Bartleby nahm das zunächst mit stoischen Gleichmut zur Kenntnis. Die interessieren sich ja alle nur für Kreuzberg und Prenzlauer Berg, dachte er. Ja, denkste. Dann entdeckten die Haie auch seine Ecke. Liegt an der Spree, am Rand vom Tiergarten, mit U- und S-Bahnhof, nur ein paar Minuten mit dem E-Roller zum Regierungs-viertel und weit und breit nur ein Wehrdienstverweigerer aus Eschwege. Los, da müssen wir hin.

Jetzt hat das Kapital auch meine Straße erobert. Erst Luxusmodernisierung gegenüber, dann Neubau mit Eigentumswohnungen daneben und dann welche auf unserem Dach. Jetzt hat es auch meine vertrauten Nachbarn im Haus nebenan erwischt. Ich hatte mich schon gewundert, dass auf deren Balkonen keine Blumen mehr gepflanzt wurden. Alle „entmietet“, wie es so schön heißt, also rausgeschmissen. Ein völlig intaktes Haus aus der Nachkriegszeit mit allem Drum und Dran und vor allem mit bezahlbaren Mieten. Das darf nicht mehr sein! Wo bliebe denn da die Rendite?

Wer von euch Lust hat, demnächst mein Nachbar zu werden, sollte schon ein paar Groschen gespart haben. Angebot: 4. Stock, 88 qm, 600 000 Euro. Dachgeschoss, auch 88 qm, 800 000 Euro. Meine Wohnung ist doppelt so groß. Und ich brauche auch keinen Parkplatz für den SUV auf dem Hof. Für mich müssen auch nicht eine riesige Pappel, eine alte Kastanie und eine wunderschöne Rotbuche gefällt werden. Ob du ein stattlicher Baum bist, der hier schon seit 60 Jahren steht oder ein Mieter, der hier schon genauso lange lebt, du musst weg, du musst raus. Thats capitalism, stupid!

Der Krieg hat unsere Gegend schwer getroffen. Das elegante Hansaviertel wurde förmlich ausradiert. Die englischen Bomberpiloten hatten einfach Schiss vor der Flak um die Reichskanzlei, warfen ihre Bomben lieber vorher über uns ab und drehten um. Das heißt, die Bomben, die für Adolf gedacht waren, trafen dafür unser Viertel. Adolf hats gefreut. In unserer Straße blieben nur zwei bis drei Häuser schwer beschädigt übrig. In eins davon bin ich vor mehr als 50 Jahren eingezogen. Jetzt muss ich nach dem Bombardement der Anglo- Amerikaner damals das Bombardement der internationalen Immobilienhaie heute fürchten. Den Luftschutzkeller von damals gibt es in unserem Haus noch. Ich habe den Bombenterror im Krieg zweimal in Berlin und Potsdam in solchen Kellern überlebt. Aber das hilft mir heute nicht mehr, wenn die Bomben der Spekulanten in meinem Briefkasten landen. Ein Briefkasten ist kein Luftschutzkeller. Es ist zum Kotzen. Kann mir jemand von euch eine Kalaschnikow besorgen? Nur so, für den Fall der Fälle.

Das war jetzt mal wieder der düstere Bartleby. Tut mir leid. Aber wie kriegt er jetzt die Kurve? Vielleicht so. Ich lade euch ein zur berühmt-berüchtigten 1. Mai Demo in Berlin. Nicht zu der nach Kreuzberg. Das ist nur noch Tourishow mit endlosen Dönerbuden. Nein, diesmal gehen wir dorthin, wo die wahrhaft Abgehängten dieser Stadt leben. Marzahn? Wedding? Nein, wir wollen ein Zeichen setzen und marschieren diesmal durchs mondäne Dahlem! Da leben die abgehängten Millionäre, die ihren Lamborghini auf dem Radweg parken müssen, weil ihr Gärtner mal wieder vergessen hat, das Tor zu öffnen. Wir tun nichts, wir wollen nur zeigen, wie sehr wir mit diesen wahrhaft Abgehängten leiden.

Der Mauerpark am Rand von Prenzelberg galt lange als no-go-area. Randale war an der Tagesordnung. Dann wurde gegengesteuert und sogar meine Allianz investierte in den Park. Ergebnis: Es wurde friedlich, es wurde Musik gemacht, man konnte Sport treiben, es gab beliebte Karaoke-Shows und spektakuläre Osterfeuer. So stand das dann auch in den Berlin- Reiseführern. Das ist der place to be, sagten sich die Landeier auf der schwäbischen Alb, da müssen wir hin und kauften sich Eigentumswohnungen am Rand des Parks, um ganz nah dran zu sein. Aber bald vermissten Mutti und Vati ihre gewohnte Kehrwoche. Auf einmal war ihnen die Musik zu laut und außerdem liefen hier viel mehr Menschen rum als früher in ihrem Dorf und machten dies und das. Jetzt käme wie jedes Jahr die Walpurgisnacht im Mauerpark, ein Highlight des Jahres. Musik, Zauberer, Feuer und jede Menge Hexen. Die neuen Anwohner aber wollten ihre Ruhe, wollten wieder ihr Dorf zurück und klagten. Die Walpurgisnacht wurde verboten. Anscheinend haben die Schwaben inzwischen auch das Bezirksamt übernommen. Scheiß-Gentrifizierung!

Dazu passt das Gejammer eines Schwabenpapas in einer Berliner Zeitung: „Unsere Kinder haben ihre Drohne verloren. Sie wurde zu hoch geflogen, war dann nicht mehr steuerbar und ging dann irgendwo wieder runter.“ Ja, ich weiß auch wo. In unserem Hof neben den Mülltonnen. Und dann bin ich einfach mal draufgetreten. Natürlich nur aus Versehen.

In Kreuzberg unterhalten sich die echten Berliner Gott sei dank immer noch über Wesentliches. Sitzen zwei Frauen in einem Straßencafé und beobachten eine Taube. „Die trägt ja Ringe.“ – „Dann isse nich von hier.“

Es könnte ja sein, dass ihr nach so einem Newsletter glaubt, der arme Bartleby sei ein unglücklicher Mensch. Ich kann euch beruhigen mit Charlie Chaplin: „Auch eine Qualle hat ein erfülltes Leben.“

In diesem Sinne, euer Bartleby.

#12

Hallo Fritz, hallo Reinhold, hallo Fans,

heute beginne ich mal mit einer Einladung in unsere Zoos. Wir haben zwei. In Berlin gibt es alles doppelt. Das solltet ihr aber inzwischen wissen. Das Doppelte macht diese Stadt geradezu einzigartig. Sie ist so etwas wie der eineiige Zwilling unter den Städten. „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!“ singen die Fußballfans nach einem gewonnenen Pokalspiel. Aber in welches?

Unser flottes Eisbärenmädchen heißt also Hertha. Immerhin passender als Angela oder Annegret. Jetzt wartet ganz Berlin auf Nachwuchs bei den Pandas. Aber das klappt bei denen nur an drei Tagen im Jahr. Sex ist nicht so ihr Ding. Lieber Bambus von morgens bis abends. Ich kenne das. Nicht mit Bambus, eher mit Fußball. Was man eben so macht als Panda im Körper eines Mannes.

Diese Woche große Demo gegen den Mietenwahnsinn in der Stadt. Schon vergessen, wie das hier in den 70ern war? Wir hatten Häuser besetzt und sie vor dem Abriss gerettet. Und was machte der Senat? Verscherbelt sie später für nen Appel undn Ei an die Immobilienhaie von Deutsche Wohnen und Co. Jetzt ist der Jammer groß. Aber es gibt ja noch das Grundgesetz. Kennen wir nicht, sagt sich Vonovia und beginnt ihre Kündigungsschreiben an die Rausmieter mit dem einfühlsamen Aphorismus „Leben heißt Veränderung“. Muss es in dieser Stadt erst soweit kommen, wie Olli Welke in der „Heute Show“ fragte: „Kann der Russe nicht wiederkommen?“ Soll er doch.

Elke macht anläßlich ihres Geburtstags eine Kreuzfahrt mit ihren beiden Kids. Ohne Katze. Das heißt, der alte Katzenflüsterer muss noch einmal zeigen, was er so drauf hat. Mit seinen Leckerlis hat er bisher noch jede rumgekriegt. Eigentlich ist sie eine British Kurzhaar. Aber von wegen Kurzhaar. Überall Haare. Ich sehe aus wie ein Yeti und meine Wohnung wie eine Teststrecke für Dyson-Staubsauger. Was ich jetzt aber mit Sicherheit weiß ist, dass ich keine Katzenhaar-Allergie habe. Bleibe weiterhin nur allergisch gegen Dummheit. Kennt ihr ein Mittel dagegen?

Wenn ich eins bei EDEKA hasse, dann, dass es an der Kasse immer dauert. Egal an welcher. Es ist wie früher an der Grenze zur DDR, als ich immer in der gefühlt längsten Schlange gelandet war. Ich lege also wie immer in Windeseile meine Ware aufs Band und zücke schon demonstrativ die EC-Karte. Plötzlich schaut die Kassiererin mich an: „Haben Sie jetzt eine Katze?“ Ach so, wegen der Katzenmilch und der Leckerlis. Ich versuche, das Missverständnis aufzuklären. Nein, nein, nur zur Pflege. Sie lächelt mich an wie noch nie in den letzten 20 Jahren. Manchmal ist es so leicht mit den Frauen. Ich habe da früher wohl vieles falsch gemacht. Sie habe auch eine Katze, sagt sie, und finde meinen Pflegejob bewundernswert. So kommen wir ins Gespräch und die Schlange an der Kasse wird lang und länger. Scheißegal, sind doch eh alles nur Hundehalter.

Ich habe neulich in einem Anfall von Nostalgie mal wieder in meiner Korrespondenz der vergangenen 50 Jahre gestöbert. Unfassbar, was da alles verborgen ist. Das meiste natürlich Mahnschreiben und Bußgeldbescheide. Aber Überraschung: es fanden sich auch eine oder zwei Handvoll Liebesbriefe darunter. Sie stammten allesamt von schönen Frauen, die mich vor allem für eins schätzten: ich könne so gut zuhören. Wenn das kein Kompliment ist. Mein Ohr war für diese Damen mein wichtigster Körperteil. Ich hatte ganz heimlich auf eine andere Wahl gehofft. Aber klar, der liebe Gott hat mich mit zwei Ohren geschaffen und nicht mit zwei Dingsbums. Außerdem war ich damals noch ein sehr, sehr junger Panda.

Ihr habt es noch nicht bemerkt, aber ich habe jetzt einen neuen Computer, genauer gesagt, einen neuen Rechner. Alles geht schneller und endlich kann ich Livestream ohne Stopps sehen und muss mich dafür nicht mehr vor die Glotze setzen. Es ist, als wäre ich von einem 2CV auf die Mercedes S-Klasse umgestiegen. Möglich gemacht hat das Enkel Milan und sein Kumpel. Meine Gene reichten dafür leider nicht mehr aus. Aber für solche Fälle hatte Darwin ja die Mutation entdeckt.

Natürliche Dummheit kann weitaus mehr Unheil anrichten als künstliche Intelligenz. Das glaubt ihr nicht? Hier kommt der Beweis. Die CSU war ja schon immer ein unerschöpfliches Reservoir für Vollpfosten in der Verkehrspolitik. Nach Ramsauer (wer?) und Dobrindt (der mit den schicken Sakkos) hatte sich die Auto-Lobby „gegen jeden gesunden Menschenverstand“ den Scheuer Andy für das Amt des Verkehrsministers ausgeguckt. Und der Andy sorgt jetzt dafür, dass demnächst flotte E-Roller auf unseren Gehwegen zwischen alten Mütterchen mit ihren Rollatoren und jungen Müttern mit Kinderwagen und Kleinkindern herumkurven. Dem ersten E- Roller, der mir in die Hacken fährt, haue ich dermaßen eine in die Fresse, dass er fortan lieber wieder auf seinen SUV umsteigt.

Ihr seht, Opa ist mal wieder auf Krawall gebürstet. Das hält ihn jung. Aber keine Angst, hier ein Tipp für die Wessis unter euch, die sich noch in unsere Stadt trauen: Der Berliner ist schlecht gelaunt. Wenn du ihm die schlechte Laune zurückgibst, kriegst du Liebe. Was wollt ihr mehr?

Aber Opa kann auch nett. Für euch zum Schluss etwas aus Berliner Kindermund:
„Kennst du fünf Tiere aus Afrika?“
„Ja, drei Elefanten und zwei Löwen!“
Ich liebe solche Kinder. Bitte mehr davon. Unbedingt!

Ich wünsche euch eine schöne Zeit voller „Gefühl und Härte“, Wahlspruch der Berliner 68er. Was mir davon leichter fällt? Dann ratet mal schön.

Ulrich

#11

Hallo Fritz, hallo Reinhold, hallo Fans,

was Stolpersteine sind, muss ich euch wahrscheinlich nicht erklären. Vor dem Haus, in dem ich wohne, gibt es noch keine. Es steht in einem Kiez, der früher als „jüdisches Geheimratsviertel“ bekannt war. Die größte Synagoge stand hier und noch zwei kleinere. Von hier aus gingen auch die meisten Transporte in die Vernichtungslager los. Jeder konnte die Menschen sehen, wenn sie in großen Gruppen zum Güterbahnhof Moabit getrieben wurden. Ich spaziere heute durch die gleichen Straßen, wenn ich einkaufen gehe als wäre nichts geschehen. Das hat mich immer wieder beschäftigt. Als ich vor Jahren von den Stolpersteinen hörte, habe ich recherchiert, wer um 1940 in unserem Vorderhaus gewohnt hat. Ich fand fünf jüdische Stammmieter und daneben zahlreiche andere Juden, die für kurze Zeit in deren Wohnungen zwangseingewiesen wurden. Sie wiederum mussten ihre Wohnungen verlassen, weil sie dem Abriss ihrer Wohnungen am Reichstag im Wege waren. Dort wollte Hitler die „Welthauptstadt Germania“ errichten.

Ob einer der fünf Stammmieter auch in meiner Wohnung gelebt hat, konnte ich nicht ermitteln, ist aber durchaus möglich. War für mich auch nicht entscheidend. Ich machte der Koordinierungsstelle Stolpersteine das Angebot, fünf Steine auf meine Kosten vor unserem Haus zu verlegen. Das war 2004. Alles schien gut, bis ich mich mit dem Initiator der Stolpersteine hoffnungslos zerstritt. Wenn ich eins kann, dann das.

Das alles ist jetzt 15 Jahre her. Ich werde nicht jünger und habe das Gefühl, noch etwas Wichtiges zu Ende bringen zu müssen. Es fiel mir schwer, aber ich habe noch einmal einen Anlauf gemacht. Die Koordinierungsstelle sagte, meine Wartezeit betrüge etwa sieben Jahre, SIEBEN JAHRE! Da bin ich längst bei Monika in Stahnsdorf und die Wildschweine haben unsere Gräber verwüstet.

Was nun, Alter? Hast du nicht mal tolle Seminare in Schriftverkehr gemacht? Jetzt kannst du zeigen, was du noch drauf hast. Also ein reizender Brief an die älteren Damen von der Koordinierungsstelle. Das kannst du doch. Freundlich, empathisch und voller Verständnis und Bewunderung. Ein Brief zum Niederknien. Ergebnis: die Damen beginnen gleich mit ihren Recherchen und spätestens Anfang nächsten Jahres würden die Steine verlegt. Non scholae sed vitam discimus. Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir. Jetzt kann ich mir in Ruhe überlegen, wie ich das Verlegen der Stolpersteine in einem würdigen Rahmen gestalte.

Ich weiß, das war heute nicht der Bartleby, den ihr kennt. Sorry. Aber es ging mir um etwas, das mich schon seit langem sehr bewegt. Jetzt fühle ich mich besser. Gebt Bartleby ein bisschen Zeit und sein nächster Newsletter wird wieder so aussehen wie früher. Versprechen oder Drohung, je nachdem, was ihr erwartet.

Masel tov! (Jiddisch für „Viel Glück!)
Ulrich

#10

Hallo Fritz, hallo Reinhold, hallo Fans,

Neues vom alten weißen Mann aus dem Wartezimmer im Nierenzentrum Berlin: Meine gestrenge Onkologin war mit meinen Laborwerten gar nicht zufrieden und scheuchte mich zum Nephrologen. Ich natürlich gleich mal auf Hypochonder.de. Da kamen natürlich sofort Erinnerungen an meinen Bruder (32) in der Dialyse hoch. Doch zu meiner großen Erleichterung gab der Doktor Entwarnung. Glück für mich, Pech für euch. Jetzt müsst ihr mich doch noch eine Weile ertragen.

In Berlin tobt gerade eine Impfdebatte. Das erinnert mich an den Rat meiner Onkologin, alle Impfungen aus meiner Kindheit noch einmal zu wiederholen. Die Chemotherapie war so gründlich, dass sie mich auf den Stand eines Babys zurück- geworfen hatte. Jeder Schnupfen hätte mich umhauen können. Und ihr werdet staunen, das Weichei Bartleby sagte diesmal nicht „ich möchte lieber nicht“. Mit Todesverachtung sah er der resoluten Schwester in die Augen, die mit einem Arm voller Spritzen vor ihm stand. Masern, Diphterie, Kinderlähmung, Tollwut usw., das volle Programm. Jetzt bin ich das älteste immune Baby in Berlin.

In unserem esoterischen Bezirk Prenzlauer Berg sehen viele das anders. Die Helikoptereltern mit schwäbischem Migrationshintergrund montieren zwar den teuersten Kindersitz in den SUV, aber ihre Kids lassen sie nicht impfen. Lieber Globuli und Bachblütentee. Ein Kinderarzt in Prenzelberg hat darauf genial reagiert. In seinem Wartezimmer hängt ein Schild: „Sie müssen ihre Kinder nicht impfen lassen – nur die, die Sie behalten wollen“. Guter Mann.

Weil es passt, nochmal Kinder. Bartleby hat gelesen, dass eine Kita in Schleswig- Holstein es den Kids untersagt hat, zum Fasching als Indianer zu kommen. Das erinnert ihn an seine Zeit im anti-autoritären Kinderladen „Kinderkollektiv 70 eV.“ Mein Sohn (hallo Tassilo!) wollte unbedingt als Cowboy gehen. Die Mehrheit der Eltern meinte, er könne ja auch als Albert Schweitzer gehen. Monika und ich erreichten einen Kompromiss: Er ging dann doch als Cowboy mit seinen Pistolen, durfte allerdings damit nicht schießen, sondern immer nur „Peng! Peng!“ rufen. Ein John Wayne light. Kurze Zeit später war er für ein paar Tage bei seiner Oma in Hessen. Natürlich ging sie mit ihm in einen Spielzeugladen. „Such dir was aus, Junge.“ Der Junge sah sich nur kurz um und entschied sich für – na? – einen feuerspuckenden Panzer. Oma registrierte es mit Sympathie.

Fasching in der Nachkriegszeit in Berchtesgaden. Mein kleiner Bruder und ich wollten als Indianer gehen. Aber es gab im Ort keine Federn für unseren Kopfschmuck. Auf der Alm lebten halt nur Kühe, aber leider keine Hühner. Mutter entschied, ihr geht als Scheichs. „Die sind reich und haben viel Sand.“ Das hat uns überzeugt. Mutter, patente Frau aus Potsdam (hallo Elke!) nähte uns zwei Kostüme aus Bettlaken (s. Anhang). Die Seppls waren irritiert und wollten immer wissen, was unser Kostüm bedeutet. „Wir sind Scheichs, wir sind reich und ihr nicht.“ Dann mussten wir aber schnell laufen.

Fridays for Future. Erinnert mich an eine Schüler-Demo in den 70ern. Tausende SchülerInnen zogen gegen die Schulpolitik des Senats über den Kudamm und skandierten: „Bei der Rüstung seid ihr fix, für die Schulen tut ihr nix!“ Mitten drin mein Sohn. Der 68er-Vater platzte fast vor Stolz.

Reinhold, Fritz, wofür wären wir damals auf die Straße gegangen und hätten den Unterricht geschwänzt? Mir fällt nichts ein. Was wäre denn da ausgefallen? Religion bei Löckchen, Musik bei Veilchen und Geräteturnen bei Trümpler. Oder doch: Zusammenschluss mit der Leuchtbergschule (Lyzeum). Wenn ich mich schon nicht zu den Mädels traue, dann müssen sie eben zu mir kommen. Das Aufregendste, das ich mir damals mit ihnen vorstellen konnte war, sie dann an den Zöpfen ziehen zu können (sorry Greta!). Wir waren in Biologie einfach noch nicht so weit.

Unser bigotter Direx hatte ein Einsehen mit den Leiden des jungen Werther und verstieß ihn auf die Waldorfschule in Kassel. Als Junge mit Werra-Meißner- Migrationshintergrund wurde ich gleich neben ein Mädchen gesetzt (Mathe 1), und das nach 12 Jahren Besuch von reinen Jungsschulen. Ein Kulturschock für den Dietemann! Es war so, als würdest du einen Veganer plötzlich neben ein Wiener Schnitzel setzen. Wir haben uns erst den Teller und dann auch mehr geteilt. Ach Inge! Wer heißt denn heute noch Inge? Kennst du eine, Chantal? Nöö.

Für die Nicht-Berliner unter euch noch zwei Kostproben für den Mietenwahnsinn in der Hauptstadt der Versager. Staffelmiete in Prenzlauer Berg von heute 2.400 Euro bis 6.716 Euro in 2036 und in Mitte von heute 2.400 Euro bis 8.170 Euro in 2035. Ich wohne in Mitte. Wenn es hart auf hart kommt, hat noch jemand eine kleine Wäschekammer für mich? Bringe auch den Müll runter.

Übrigens, Wessis, seht euch vor, BVG is watching you. Bus 245. Langes Fahrzeug voller Fahrgäste. Ruhe. Plötzlich Durchsage des Fahrers: „Könnten Sie bitte ganz hinten nach dem Trinken wieder den Deckel auf die Flasche machen? Danke.“ Ich hoffe, das galt keinem von euch. Die Sau könnt ihr bei euch zu Hause rauslassen.

So, Leute, jetzt seid ihr erst mal wieder auf dem Laufenden. Trotz alledem, macht euch keine Sorgen um Bartleby. Er hält es im Rückblick mit seinem Idol Georg Schramm: „Nüchtern betrachtet war es betrunken besser.“ Und nicht vergessen: nie waren wir so alt wie heute.

Ulrich alias Bartleby

#09

Hallo Jungs, hallo Fans,

ich mache meine Drohung vom letzten Mal wahr und komme euch heute auch mal politisch. Ihr müsst jetzt ganz tapfer sein. Hier kommt das Neueste aus dem „nicht funktionierenden Teil Deutschlands“ (Boris Palmer, OB Tübingen). In wenigen Tagen beginnt hier das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Erinnert ihr euch noch an die Schule, als in Sozialkunde ein paar Minuten, wenn überhaupt, für Artikel 14 GG verwandt wurden. „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig.“ Großes Erstaunen heute allüberall: Was, das steht da wirklich? Das muss ein Irrtum sein. Als betroffener Teil der Allgemeinheit sage ich euch, das ist kein Irrtum. Ihr Investoren aus Russland, China, Saudi-Arabien, Luxemburg und Deutsche Wohnen, zieht euch warm an. Der Geist von 1968 ist in dieser Stadt noch am Leben. Ich halte euch auf dem Laufenden bis ich aus meiner Wohnung rausgeekelt werde. In Bayern gab es jetzt ein erfolgreiches Volksbegehren für den Schutz von Bienen und Insekten. Find ich gut. Aber was hat den Chefredakteur der „Titanic“ geritten, wenn er das so kommentiert: „Ich freu mich immer so, wenn ein Insekt gegen die Windschutzscheibe klatscht, weil dann ist es ja vielleicht doch nicht so schlimm mit dem Insektensterben.“ Eine Hornisse soll ihn in die Eier stechen. In beide. Ihr kennt doch sicher viele Vorschläge zum Weltkulturerbe. Na klar, der Kölner Dom, die Wartburg und Sanssouci sind schon dabei. Ihr könnt auch gerne eigene Vorschläge machen. Einer hat mich sehr nachdenklich gemacht. Er kommt von der wunderbaren Mely Kiyak, von mir schon lange verehrte Publizistin auf ZEIT-Online. Angesichts unseres Umgangs mit Flüchtlingen schlägt sie als Weltkulturerbe keinen neuen Dom vor, sondern statt dessen: Ertrinken lassen im Mittelmeer. Das ist hart, aber besteht unsere Kultur wirklich nur aus historischen Gebäuden? Denkt darüber nach. Ihr glaubt es nicht, aber in meiner Zeit als Allianz-Betriebsrat wurde ich zum „Frauenbeauftragten“ gewählt. Ich. Als Mann. Von einer weiblichen Mehrheit. Bis heute rätsele ich, ob das ein Kompliment oder die Höchststrafe war. Als NeuFeminist habe ich mir auch Gedanken über die aktuelle Me-too-Debatte gemacht. Ergebnis: Gut, dass es die zu meinen Marburger Zeiten noch nicht gegeben hat. In meiner Korporation herrschten seit Kaisers Zeiten strenge Regeln: Kein Sex „intra Muros“. Für Leute ohne großes Latinum: Damit war ursprünglich die Stadtmauer Marburgs gemeint. Zu meiner Zeit wurde das Verbot dann auf die Mauern unseres Hauses beschränkt. Ich erinnere mich an eine wilde Faschingsfete. Als Frauenbeauftragter hatte ich alle einsamen Krankenschwestern der umliegenden Kliniken aufs Haus eingeladen und mich als jugendlichen Robert Redford verkleidet. Die Schwester behandelte mich wie einen Privatpatienten. Ewiges Gefummel oder wie ihr heute sagt, learning by doing. Aber bevor es zum Äußersten kommen konnte, mussten wir beide feststellen, dass wir noch Jungfrauen waren. Da habe ich mich gerade noch rechtzeitig an das kaiserliche Verbot erinnert. Andernfalls hätten mich meine Bundesbrüder geteert und gefedert nackt durch die Marburger Altstadt getrieben. Kein schöner Anblick. Die Krankenschwestern hätten am Straßenrand gestanden und mich mit gefüllten Bettpfannen beworfen. Marburg war schon lange vor der Me-too-Debatte ein gefährliches Pflaster. Du konntest die Uni besuchen oder was fürs Leben lernen. Manchmal sogar beides. Hier etwas Wichtiges für die Nicht-Berliner unter euch. Solltet ihr einmal den Mut aufbringen und in unsere verrückte Stadt kommen, keine Angst: An der Stadtgrenze zu Berlin gibt es keine Volkpolizisten mehr. Statt dessen patroullieren dort jetzt Wildschweine. Mit eurem Gewehr dürft ihr in der Stadt nicht auf sie schießen. aber mit Pfeil und Bogen schon. Also geht noch einmal in euren Keller und sucht nach den Waffen aus eurer Winnetou und Old Shatterhand-Zeit. Aber wahrscheinlich hauen die Wildschweine schon ab, sobald sie euch als Westdeutsche erkennen. Wenn ihr euch nach dem Schreck wieder aus dem KaDeWe raus traut und im 100er oder 200er-Bus durch die Stadt kurvt, wollt ihr ja nicht als Touris aus KleinKleckersdorf erkannt werden. Da hilft es euch wenigstens, wenn ihr wisst, was echte Berliner nie sagen (danke Tagesspiegel): „Kann ich so rausgehen?“ „Deine Schuhe sind dreckig.“ „Bitte nach Ihnen.“ „Die S-Bahn kommt.“ „Es ist noch rot!“ „Frühstück gibts nur bis 10.“ „Ich hab die Wohnung in Kreuzberg bekommen.“ „Links gehen, rechts stehen!“ „Danke. Bitte. Entschuldigung.“ Werner Schneyder ist tot. Er war ein Idol für mich: Kabarettist mit und ohne Dieter Hildebrandt, Schriftsteller, Sportmoderator und Ringrichter im Boxring. Er nannte sich einmal „Universaldilettant“. Darum habe ich ihn beneidet. Noch heute setze ich einen Aphorismus von ihm in meinen Auseinandersetzungen mit dämlichen Berlinern ein: „Versuchen Sie es einmal mit Intelligenz. Es tut nicht ganz so weh wie sie vielleicht vermuten.“ Danach herrscht meist Stille. In einem Nachruf lese ich, dass er an seinem 40. Geburtstag gesagt hatte: „Bis 80 ist Pflicht, der Rest ist Kür.“ Jetzt starb er mit 82 Jahren. Mal sehen, wie lange meine Kür noch dauert. Für heute verabschiede ich mich mit einer Kabarett-Größe vom Niederrhein. Hans-Dieter Hüsch: „Es ist ja nichts Besonderes, in der heutigen Zeit zu allem fähig zu sein. Dann lieber zu allem unfähig.“ Jetzt müsst ihr euch entscheiden. Euer Bartleby.

#08

Hallo Jungs, dear followers,

eins vorweg: Bartleby gehts gut. Ich sehe, wie erleichtert ihr seid, ihr Heuchler. Oder hat einer von euch etwas anderes erwartet? Hoffe ich doch nicht, und wenn schon.

Als bald 80jähriger verfolge ich aufmerksam, wie es rechts und links um mich einschlägt. Jetzt hat es leider auch Bruno Ganz getroffen. Ich hoffe, ihr kennt ihn, sonst könnt ihr diese Mail gleich löschen. Ich habe ihn in den wilden 70er-Jahren in der Schaubühne bewundern dürfen in „Peer Gynt“ und vor allem im „Prinz von Homburg“ meines Lieblingsdramatikers Heinrich von Kleist. Eines unterschied ihn damals von allen Staatsschauspielern: er mischte sich nach dem Ende der Aufführung unter das Publikum und mich und sammelte Geld für die Sandinista in Nicaragua. Sagt mir, welcher Schauspieler heute etwas Vergleichbares machen würde. Ulrich Matthes vielleicht.

Auch Karl Lagerfeld ist tot. Was hast du denn mit dem zu tun, höre ich euch fragen. Ich sags euch. Er war ein Exzentriker, so einer, wie ich es gerne gewesen wäre. Aber meine preußische Mutter hatte alles versucht, mich auf gesellschaftlichen Mainstream zu trimmen. Leider mit Erfolg. Am besten hat mir sein dictum gefallen: „Männer in Jogginghosen haben die Kontrolle über ihr Leben verloren.“ Ich habe es mal versucht und wollte in Jogginghosen und Badelatschen einkaufen. Habe es nur bis zu meinem Auto vor der Haustür geschafft und den Versuch dann abgebrochen. Mein Traum: Mit den beiden Hamburgern Lagerfeld und Udo Lindenberg durch St. Pauli zu ziehen und den Kiez aufzumischen. Schade.

Zurück im Berliner Alltag. Der größte Stromausfall seit Jahrzehnten in Köpenick. Fast zwei Tage alles duster, kein Kühlschrank, kein Fernsehen, kein Radio und kein Telefon. Euch bekannt? So war das bei uns nach dem Krieg jeden Tag. Abends Stromsperre. Dann hieß es warten, Kerzen anzünden und „Mensch ärgere dich nicht“ spielen. Immer wenn ich vor dem Gewinnen war, ging das Licht wieder an. Mist!

Jetzt aber ins Berlin von heute zum großen Rhetoriker Bartleby. Fünfmal in der Woche bei EDEKA an der Kasse. Fünfmal sagt er „danke“, wenn er das Wechselgeld zurückbekommt. Was für ein Redeschwall! Das muss dann wieder für eine ganze Woche reichen. Seltsam, wenn man bedenkt, dass der Typ früher in seinen Seminaren die Leute tagelang totgequatscht hat. Aber „wir können auch anders“. Das Plakat zu diesem Film mit Joachim Krol und Horst Krause hing in seinem Büro. Wer auch immer ihn dort besuchte, wusste auf den ersten Blick, woran er mit ihm war.

Wenn Bartleby gut drauf ist (kommt selten vor) kriegt er doch den Mund auf. Zum alten Bauern auf dem Ökomarkt: „Hallo Meister. Ich muss Sie anzeigen.“
„Was?“
„Sie haben mich süchtig gemacht mit ihrer tollen Leberwurst.“
„Tut mir leid, dann nehmen Sie doch die frische Mettwurst.“
„Und die macht mich nicht süchtig?“
„Nur, wenn Sie Veganer sind“.
Wusste garnicht, dass Brandenburger auch witzig sein können.

Die Baustelle vor unserem Haus ist endlich geräumt. Nach zwei Jahren! Die leidige Parkplatzsuche im Kiez hat ein Ende, der Youngtimer steht jetzt wieder genau vor meiner Haustür. Da steht er gut und lange. Es gibt nur ein kleines Problem. Im Radio hat ein Autoexperte Typen wie mich gewarnt, ihr Schätzchen zu lange auf seinem Lieblingsplatz zu parken: Es drohen Standschäden. Kannte ich bisher nur beim Sex. In meinem Supermarkt hängen viele Zettel, mit denen Leute anbieten, mein Hündchen Gassi zu führen. Habe aber keins. Aber vielleicht gibt es auch jemand, der mein Auto einmal die Woche um den Block fährt. Der Wagen ist stubenrein, pinkelt nicht an jeden Baum und scheißt nicht den Bürgersteig voll. Ihr würdet euch auch die Kackbeutel sparen. Interesse?

Alt werden ist Scheiße, aber muss es auch peinlich sein? Offensichtlich ja. Bartleby will sein Bett neu beziehen, nach gefühlt ewigen Zeiten. Spannlaken. Sowas kannten wir damals in Eschwege nicht. Entsprechend dämlich habe ich mich angestellt. Plötzlich Alarm! Der DRK-Notruf: „Sie haben eben den Alarmknopf gedrückt. Was ist passiert? Brauchen Sie Hilfe?“ Ich muss mit dem Notruf-Armband irgendwie unter die Matratze geraten sein. Zu blöd der Alte, um ein Bett zu beziehen. Auf meiner Peinlichkeitsskala rückt dieses Ereignis jetzt auf Platz 2 vor.

Unangefochten bis heute auf Platz 1, ein Ei länger als eine Stunde hart zu kochen. Dann kreischt der Rauchmelder, Küche und Flur sind verqualmt. Bartleby ganz cool, wählt 112 und wartet auf dem Balkon. „Das machen Sie gut“, sagt die Feuerwehr und rauscht mit Tatütata an. Löschfahrzeug, Leiterwagen, Notarzt, das volle Programm. Die Nachbarn hängen aus den Fenstern. Endlich was los in dieser Öde. Der Einsatzleiter schaut mir tief in die Augen und entscheidet, diesem Volltrottel keine Rechnung zu schicken. Nicht erst seitdem bin ich ein Fan der Berliner Feuerwehr.

Zum Schluss noch was für die Twitterer unter euch. Fahrgast im M29 der BVG (für Wessis: Berliner Verkehrsgesellschaft) twittert, was der Busfahrer eben durchgesagt hat: „Eene meene mei, die letzte Tür macht frei … hex, hex!“ Kommentar der BVG: „Hui, fährt der alberne Anton heute M29?“ Versteht ihr, warum ich hier alt werden möchte und nur hier? Nee, wie solltet ihr auch.

So, Leute, Schluss für heute. Das nächste Mal wird es auch politisch. Zieht euch schon mal warm an. Ich gönne mir jetzt noch einen Absacker und schau dann Katzenvideos.

Machts gut.
Ulrich alias Bartleby

#07

Liebe Elke, hallo Jungs,

ich bin euch noch eine Erklärung schuldig, wieso Herman Melville („Moby Dick“) bei seiner Erzählung über „Bartleby, der Schreiber“, vor allem an jemanden wie mich gedacht hat. Sein berühmtes „Ich möchte lieber nicht“ zieht sich durch mein ganzes Leben. Es ist die Geschichte einer Verweigerung. Hier zehn Beispiele, die typisch für mich waren und sind:

  • 1954 sollte ich vom schönen Berchtesgaden ins triste Eschwege umziehen. Der Bartleby in Lederhose sagte: „Ich möchte lieber nicht.“
  • Auf einer Fete in meinem Eschweger Partykeller wollte mir eine attraktive Frau an die Wäsche. Mit anderen Worten, sie wollte mit mir vögeln (pardon). Der jungfräuliche Bartleby in mir stammelte nur: „Ich möchte lieber nicht“. Das blieb dann leider viel zu lange so.
  • Marburg 1960. Mein Vater wollte, dass ich Jurist werde wie er. Student Bartleby sagte „Ich möchte lieber nicht“. Das war nicht schwer.
  • 1967. Meine Hochzeit als Heide im christlichen Kernland. Schwiegervater wollte mich dazu überreden, wenigstens nur für den Tag der Hochzeit wieder in die Kirche einzutreten. Alles andere werde er regeln. Bräutigam Bartleby sagte „Ich möchte lieber nicht“ und dabei blieb es bis heute.
  • 80er-Jahre. Die Allianz brauchte Abteilungsleiter für den Ausbau in Berlin. Ich sollte für drei Jahre nach Stuttgart und danach als Abteilungsleiter an den Kudamm zurückkehren. Der alleinerziehende Bartleby sprach mit seinem kleinen Sohn und sagte „Ich möchte lieber nicht“.
  • Die halbe literarische Welt drängt mich, endlich mein Buch zu Ende zu schreiben. Aber der Autor Bartleby sagt bis heute „Ich möchte lieber nicht“. Keiner versteht ihn. Robert Musil würde ihn verstehen.
  • Ich habe ein schönes altes Auto, solle mich aber in meinem Alter endlich davon trennen. Der alte Bartleby macht das Cabriodach auf und ruft auf den Brandenburger Alleen den Jungs in ihren SUV zu „Ich möchte lieber nicht“.
  • Meine Waschmaschine (Miele) ist 40 oder 50 Jahre alt. Sie wäscht immer noch wie eine Eins, aber leider nur noch kalt. „Jetzt kauf dir doch endlich eine Neue!“. Bartleby schüttet wieder eine Riesenportion Persil in die Maschine. „Ich möchte lieber nicht“. Er kann ja statt Wäsche waschen auch neue kaufen. Macht vielleicht sogar mehr Eindruck.
  • Noch immer steht Poulines Katzenklo mit ihren Hinterlassenschaften in meiner Kammer. „Nun bring das doch endlich mal runter! Das gibts doch nicht!“ Doch, gibts bei Bartleby. „Ich möchte lieber nicht.“ Er hat ja sein eigenes Klo.
  • Es klopft an der Tür. Und wer steht draußen? Freund Hein mit seiner Sichel. „Es ist Zeit für Stahnsdorf.“ Bartleby hat dort schon seit langem ein Grab für sich reserviert. Aber gerade jetzt? Muss das sein? Bartleby wie immer „Ich möchte lieber nicht.“ Ich bin wirklich gespannt, wie das ausgeht.

Bartleby, möchtest du wissen, was die anderen über dich denken? Bartleby, konsequent wie immer: „Ich möchte lieber nicht“. Dachte ich mir. Da ist wohl nichts zu machen.

Trotzdem mehr Mut zu Bartleby!

Ulrich