#06

Hallo Fritz,

danke für deine Briefe, den abgesandten und den vorher nicht abgesandten. Gerade der Letztere hat mich schon nachdenklich gemacht. Ich glaube nicht, dass Reinhold mich besser kennt als du. Vielleicht habe ich ihn aber schon länger mit meiner Art von Ironie um zwei Ecken gequält. Das ist sicher manchmal nicht einfach für den Empfänger. Aber ich liebe sie, vor allem Selbstironie. Sie ist für mich eine Möglichkeit, anderen auf subtile, im besten Sinne humorvolle Art zu sagen, wie ich denke und fühle. Das gelingt manchmal, manchmal auch nicht. Die Gründe hierfür will ich hier nicht länger ausführen, habe sie aber jahrelang in meinen Rhetorik-Seminaren unter das Allianz-Volk gebracht (4-Ohren-Modell). 

Bei Elke zum Beispiel bemühe ich mich seit langem, Ironie zu vermeiden. Sie ist im Osten sozialisiert worden und konnte sich zu meinem Bedauern nie für einen Harald Schmidt oder Georg Schramm begeistern. Ja, ich gebe es zu, mit Ironie hatte man es unter Ulbricht und Honecker nicht leicht. Aber dass das so prägend sein kann, hat mich doch überrascht. Heute habe ich gelernt, damit zu leben. Elke läuft mir nicht weg, schon ihre Katze würde das verhindern.

Ich wollte mich hinter Oblomow und Bartleby nicht verstecken, genauso wenig wie  hinter Heinrich Heine oder Woody Allen. Im Gegenteil, ich wollte damit nur sagen, dass ich ihre Art, zu leben, verstehe und sogar bewundere. Ja, wir sind Brüder im Geiste, aber anders als sie bleibe ich doch bei meinem eigenen Weg. Fritz, du kannst beruhigt sein. Wenn es mir wirklich Scheiße geht, sage ich es auch so. Direkt und ohne jede Ironie (Müller-Arnstadt: „Merde alors!“).

Zurück zum Alltag. Weihnachten war ich bei den Kindern eingeladen. Herrlicher großer Tannenbaum wie früher bei mir in der Altbauwohnung. Leider ohne Kerzen aus Wachs, mein Sohn ist ein Sicherheitsfreak schon wegen seiner Katzen. Er steht lange in der Küche und bereitet ein anspruchsvolles 3-Gänge-Menue vor. Ich hatte früher meiner Mutter an diesem Abend nicht einmal geholfen, die Bockwurst und den Kartoffelsalat warm zu machen. Woher mein Sohn das hat? Schlag nach bei Darwin: Mutation.

Was bringt mir das neue Jahr? Zunächst in ein paar Tagen einen Rund-um-Check bei meiner Onkologin. Die kritische 5-Jahresfrist nach meinem Krebs neigt sich dem Ende zu. Wenn ich die überstehe, geht es mir wie meinem Auto. Das muss Ende des Jahres auch zum TÜV. Wenn es den wieder wie bisher ohne große Macken übersteht, steht es kurz davor, in die Familie der Oldtimer (30 Jahre) aufgenommen zu werden. 

Sollte es also zu unserem Mai-Treffen kommen, werde ich den Oldie schonen und mir einen Mietwagen nehmen. Das letzte Mal war das ein Desaster. Sie gaben mir einen nagelneuen Mittelklassewagen. In meinem alten Mercedes gibt es nur eine Armaturenanzeige von der Größe einer Postkarte. Geschwindigkeitsmesser und Tankfüllung, das ist alles. Jetzt auf einmal Navi und ein Display mit tausend Informationen, mit denen ich nichts anfangen konnte. Ich habe es nicht einmal geschafft, das Radio und den Scheibenwischer anzustellen. Gottseidank, bis Eschwege und zurück hat es dann nicht geregnet. Richtet euch bei unserem Treffen also bitte auch nach dem Wetterbericht (Ironie?).

Ich arbeite mich immer noch an meinem Vater ab? Da täuscht du dich. Dieses Kapitel habe ich schon vor längerer Zeit abgeschlossen. Inzwischen weiß ich über seine Zeit bis 1948 mehr als er selbst. Danach war er ein wunderbarer Vater und das ist ja das eigentlich Erschreckende. Schade, dass er so früh starb. Statt in Büchern hätte ich gerne selbst herausgefunden, was für ein Mensch er war. 

Den „SPIEGEL“ habe ich mir natürlich geholt. Er bot für mich aber nichts Neues. Bei mir stapeln sich Bücher über und von Kriegskindern wie mich und dich. Erst vor wenigen Jahren wurde ich darauf aufmerksam, dass auch die Kinder der Kriegskinder nicht unbeschädigt geblieben sind (s. Sabine Bode). Seitdem sehe ich meinen Sohn mit anderen Augen. Ich hätte ihm gerade als alleinerziehender Vater einen anderen Vater gezeigt, einen, der mit seinem Sohn voller Empathie und Zärtlichkeit umgeht. Nicht, dass das nicht vorkam, aber es war viel zu wenig. Aus ihm ist trotzdem was geworden (Kinderladen) und das Verhältnis zu seinem eigenen Sohn ist sehr herzlich. Irgendwann muss diese verdammte Kriegskinderscheiße (sorry) doch auch mal ein Ende haben. 

Ein Zitat in dem SPIEGEL-Artikel hat mich an meine Ankunft nach der Flucht 1945 im Bahnhof Berchtesgaden erinnert. Dort stand auf einem Nebengleis eine Dampflok mit der Parole: „Räder müssen rollen für den Sieg“. Nicht das hat mich damals empört, sondern dass dieser Spruch nicht auch auf meiner Märklin-Eisenbahn in Berlin gestanden hat. Ich war knapp sechs und aus mir wäre vermutlich ein begeistertes Mitglied der HJ geworden. Stattdessen schickte mich mein Vater dann zu den Pfadfindern, Sippe Steinadler. Mein Halstuch war jetzt zwar blau-gelb, alles andere aber so braun wie früher. „Flamme empor!“

„Männer in der Küche sind sexy“ habe ich gerade gelesen. Habe mich natürlich sofort angesprochen gefühlt. Also auf ins KaDeWe und eine sauteure Gänsekeule gekauft. Diese Gans hatte ein schönes Leben auf einem Bio-Hof im Oldenburgischen und ihr Leben lang davon geträumt, bei einem sexy Mann wie mir in der Küche zu landen. Als Rezept hatte ich mir aus dem Internet einen Mix von Sterne-Köchen zusammengestellt. Das Resultat war ein Gedicht, the best ever. Am liebsten hätte ich noch kurz einen von den Tannenbäumen nach oben geholt, die jetzt schon auf der Straße liegen und Weihnachten 2.0 gefeiert. 

Aktuelles Thema bei uns: der Schnee. Die Bayern tun so, als ob das Ende der Welt gekommen sei. Ich habe mich an meine Kindheit in Berchtesgaden erinnert und ein Foto für dich rausgekramt. Mein kleiner Bruder und ich hatten aus den Schneemassen vor unserer Wonung eine tolle Normannenburg gebaut mit einem Dach aus Schnee und Eis, also eigentlich das erste bayerische Iglu. Schulfrei wie heute gab es zu der Zeit natürlich nicht. Warum auch? Wir sind dann eben einfach mit Skiern in die Schule gefahren und haben unsere Skier unter den Fahrradständern abgestellt. Und was ist heute? Ein Volk von Jammerlappen bleibt lieber im Bett und wartet, bis der Schnee schmilzt. 

Zum Schluss noch Ernest Hemingway: „Glück, das ist einfach eine gute Gesundheit und ein schlechtes Gedächtnis“. Soll ich dir wirklich beides wünschen? Entscheide du.

#05

Hallo Jungs,

2018 „isch over“, wie der Pate von Blackrock-Merz sagen würde. Highlights für mich waren unser Klassentreffen und das 2:0 von Hertha BSC gegen den FC Bayern. Ob das nächstes Jahr noch zu toppen sein wird? 

Ich habe versucht, mich zu erinnern, wie Landrats in ESW Silvester gefeiert haben. Knallerei gabs nicht. Alle saßen rund um den festlich gedeckten Tisch voller Papierschlangen, hatten komische Hüte auf und machten ein bisschen Tischfeuerwerk. Es war wie bei Heinz Schenk oder der Familie Hesselbach. Ich durfte sogar einen Schluck Sekt probieren, aber dann ab ins Bett. So waren sie bei uns, die 50er-Jahre.

Aber dann Silvester in Berlin! Kleinkrieg, nein, Krieg auf den Straßen. Der brave Eschweger Junge, enthemmt wie seit der Tanzstunde bei olle Forster nicht mehr, ließ sich anstecken und warf Polen-Böller vom Balkon auf Polizeiautos. Aber ich hatte ein schlechtes Karma: eine Rakete vom Balkon gegenüber durchschlug das Doppelfenster in meinem Arbeitszimmer. Peanuts für das, was die türkischen und arabischen Jungs heute wieder in Neukölln veranstalten werden. Aleppo? Das können wir auch!

Elke ist für ein paar Tage aus Neukölln geflohen und hat mir ihre Katze zu treuen Händen überlassen. Meine Ecke ist ja inzwischen zu einem Senioren-Kiez geworden. Immerhin knallen die nicht mehr so und singen stattdessen lieber Volkslieder mit Heino. Ich werde der armen Katze trotzdem Kopfhörer aufsetzen, mit Musik von Caterina Valente oder Rudi Schuricke, weiß noch nicht.

Der Morgen nach Silvester bedeutete für mich und meinen vorpubertären Sohn, die Straßen nach Böller-Blindgängern abzusuchen. Mit reicher Beute kehrten wir zurück. Mein Sohn kratzte das Pulver aus den Böllern und verteilte es auf den Güterwagen seiner Märklin-Eisenbahn. Dann legte er die Lunte. Der ganze Zug rauschte zischend in Flammen durch das Zimmer. Sowas kannte ich bis dahin nur aus dem Film „Die Brücke am Kwai“, den ich in den Fünfzigern mit meinem Vater in einem Kino in Kassel gesehen hatte. Nur die Lokomotive überstand das Inferno einigermaßen unbeschädigt und steht bis heute als Erinnerung an die Heldentat auf meinem Schreibtisch. 

Der Junge kann nichts dafür, er hatte leider mein Pyromanen-Gen geerbt. Damit hätte ich während meines Studiums in Marburg um ein Haar die halbe Altstadt in Schutt und Asche gelegt. Die Stadt und ich sind mit einem blauen Auge davongekommen. Es gab nur eine Geldstrafe wegen fahrlässiger Brandstiftung. Schwein gehabt. Heute weiß ich, dass man Pyromane werden kann, wenn es mit den Frauen nicht klappt. Für Marburg kann das stimmen, aber seit Jahren habe ich in Berlin kein Haus mehr angezündet. Was das wohl zu bedeuten hat?

Was wird 2019 aus uns? Ich werde vielleicht 80, meine irische Ehefrau 70, Elke 60 und mein Sohn 50, so alt wie mein Vater. Runde Geburtstage scheinen immer etwas Besonderes zu fordern. Ich hätte Lust, an dem Tag noch einmal was Verrücktes zu machen. So wie der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg, um die Welt zu retten. Fällt euch was ein? 

Was wünsche ich euch für das Neue Jahr? Ich fand etwas bei Bertolt Brecht. Er hat einmal seine Vergnügungen zusammengestellt. Sucht euch was aus und es wird vielleicht ein gutes Jahr. Für mich wünsche ich mir, dass ich nicht nur in der Küche kreativ bin. Dann hätte ich ja auch gleich Koch werden können und nicht Philosoph.

Alles Gute.

Ulrich

#04

Hallo Klaus.

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ So schlimm wie bei Kafka ist es bei mir noch nicht, aber ich verwandele mich immer mehr zu einem „Oblomow“ (Iwan Gontscharow) und „Bartleby, der Schreiber“ (Herman Melville). Stefan Zweig schrieb in seiner Rezension über Oblomow: „Der Held ist träge – das ist alles. Er verschläft den halben Tag, geht nicht mehr aus, bricht jeden Verkehr ab und verliert nach und nach jedes Interesse an der Außenwelt. Die Trägheit hat ihn ganz in ihrer Gewalt und gibt ihn nur dem Tode frei.“

Bartleby ist berühmt geworden für seinen Spruch „Ich möchte lieber nicht“, mit dem er jeden Auftrag seines Chefs beantwortete. Der hat das lange toleriert. Dumm nur, dass der neue Chef ihn ins Gefängnis werfen ließ. Dort verweigerte er konsequent Nahrung und Kommunikation. Er wollte lieber nicht. Sein Ende kannst du dir vorstellen. 

Was verbindet mich mit den beiden Romangestalten? Meine Mutter wusste es schon ganz früh. Sie hat mir in meiner Pubertät prophezeit, einmal als Eremit zu enden. So ist es gekommen. Kluge Frau. Und den Bartleby in mir erkennst du auch in dem Schuljungen im „Stadtneurotiker“ von Woody Allen. Seine Mutter geht mit ihm zum Arzt, weil er sich auf einmal weigert, Hausaufgaben zu machen. Das Universum dehne sich aus und werde irgendwann auseinanderbrechen, sagt er. Wozu dann noch Hausaufgaben? Darauf seine Mutter ärgerlich: „Wir sind hier in Brooklyn und Brooklyn dehnt sich nicht aus.“ Klaus, bist du sicher, dass das in Berlin-Moabit genauso ist? Na also!

Wie konnte es soweit kommen? Ich hatte doch immer große Vorbilder. Als Junge in Berchtesgaden wollte ich so sein wie Old Shatterhand und die Seppls aus ihren Lederhosen prügeln. Dann natürlich Robert Redford, um als blonder Strahlemann die Schmach aus der Tanzstunde zu tilgen. Später Günter Netzer. Disco, Ferrari, sich selbst einwechseln und dann noch die Haare wie ich. Ernest Hemingway kam ich am nächsten, was sich allerdings vor allem auf den Konsum von Bourbon und Cuba libre beschränkte. Und heute? Im Ernst, da fällt mir nur Georg Schramm ein. Wenn ich ihm zuhöre, möchte ich mir den nächsten Pflasterstein greifen und die Scheiben von Muttis Kanzleramt einschmeißen. Aber dann sagt Bartleby wieder „Ich möchte lieber nicht“. Ich fürchte, so wird das nichts mit der Revolution.

Jetzt aber Schluss mit Selbstbespiegelung. Graut dir nicht schon vor Weihnachten und dem ganzen Rummel drumherum? Gut, du bist nicht so geschädigt wie ich und kannst noch alle Weihnachtsgedichte auswendig. Meine Pflichtbesuche an Heiligabend in der Eschweger Marktkirche sollten eben nur davon ablenken, dass der Herr Landrat nicht persönlich hinter dem Altar stand und mit einem Glöckchen bimmelte. Er war zu der Zeit nämlich damit beschäftigt, zuhause kiloweise Lametta über den armen Tannenbaum aus dem Schlierbach zu werfen. Genau das war es, was Loriot später inspirierte, von „früher war mehr Lametta“ zu träumen.  

Bei mir war mit Lametta Feierabend, als mein pubertärer Sohn auf seinem neuen Computer einen grünen Tannenbaum programmiert hatte. „Toll, mein Junge“ lobte der stolze Vater. „Jetzt drück doch mal die Taste da, nee die andere. Mensch, Alter!“ Ich schaffe das tatsächlich und was soll ich dir sagen – plötzlich leuchteten auf dem Baum ein paar Dutzend Kerzen auf. Nicht schlecht, aber meine Gene waren das nicht. Die zwingen mich eher dazu, Heiligabend mit Gutscheinen um mich werfend den Wünschen meiner Enkel gerecht zu werden.

Willst du noch wissen, wie ich im nächsten Jahr meinen heroischen Kampf gegen den Kapitalismus, Politiker aller Couleur, Religionen mit und ohne Kopftuch, Immobilienhaie und Bayern München plane? Nein, willst du nicht. Ist auch besser so. „Ein Teil dieser Antworten würde dich verunsichern.“ (Thomas de Maiziere)

Ich trinke jetzt noch einen steifen Grog und pflege meine Neurosen. 

Ulrich 

#03

Lieber Fritz, lieber Reinhold,

das ist neu für euch: ein Lebenszeichen von mir gleichzeitig für zwei Kumpels. Das gab es früher nicht. Ich rede nicht drumherum, ich werde immer mehr zu einem Wiedergänger von „Oblomow“ (Iwan Gontscharow) und „Bartleby, der Schreiber“ (Herman Melville). Stefan Zweig schrieb in seiner Rezension über Oblomow: „Der Held ist träge – das ist alles. Er verschläft den halben Tag, geht nicht mehr aus, bricht jeden Verkehr ab und verliert nach und nach jedes Interesse an der Außenwelt. Die Trägheit hat ihn ganz in ihrer Gewalt und gibt ihn nur dem Tode frei.“

Bartleby ist berühmt geworden für seinen Spruch „Ich möchte lieber nicht“, mit dem er jeden Auftrag seines Chefs beantwortete. Der hat das lange toleriert. Dumm nur, dass der neue Chef ihn ins Gefängnis werfen ließ. Dort verweigerte er konsequent Nahrung und Kommunikation. Er wollte lieber nicht. Sein Ende könnt ihr euch vorstellen. 

Was verbindet mich mit den beiden Romangestalten? Meine Mutter wusste es schon ganz früh. Sie hat mir in meiner Pubertät prophezeit, einmal als Eremit zu enden. So ist es gekommen. Kluge Frau. Und den Bartleby in mir erkennt ihr auch in dem Schuljungen im „Stadtneurotiker“ von Woody Allen. Seine Mutter geht mit ihm zum Arzt, weil er sich auf einmal weigert, Hausaufgaben zu machen. Das Universum dehne sich aus und werde irgendwann auseinanderbrechen, sagt er. Wozu dann noch Hausaufgaben? Darauf seine Mutter ärgerlich: „Wir sind hier in Brooklyn und Brooklyn dehnt sich nicht aus.“ Jungs, seid ihr sicher, dass das in Berlin-Moabit genauso ist? Na also!

Ich sehe euch den Kopf schütteln. Was ist denn auf einmal mit dem Typen los? Hat Hertha verloren oder war sein Rotwein gepanscht? So kennen wir ihn garnicht. Gut, in der Schule war er nicht gerade die hellste Kerze auf der Torte und auf der Forstgasse haben die Mädels auch nicht hinter ihm hergepfiffen. Stimmt ja alles. Aber mal ehrlich, wenn ich mich entscheiden müsste, wer ich sein will, warum sollte ich mich für mich entscheiden? Die 500 000 Euro Frage. Ich brauche den Telefonjoker. Aber der geht nicht ran. Wahrscheinlich schaut er sich gerade wieder Katzenvideos an. So läuft das bei mir schon seit Jahren. 

Jetzt aber Schluss mit Selbstbespiegelung. Graut euch nicht schon vor Weihnachten und dem ganzen Rummel drumherum? Gut, ihr seid nicht so geschädigt wie ich. Meine Pflichtbesuche an Heiligabend in der Marktkirche sollten eben nur davon ablenken, dass der Herr Landrat nicht hinter dem Altar stand und mit einem Glöckchen bimmelte. Er war zu der Zeit nämlich damit beschäftigt, zuhause kiloweise Lametta über den armen Tannenbaum aus dem Schlierbach zu werfen. Genau das war es, was Loriot später inspirierte, über „früher war mehr Lametta“ zu jammern.  

Bei mir war mit Lametta Feierabend, als mein pubertärer Sohn auf seinem neuen Computer einen grünen Tannenbaum programmiert hatte. „Toll, mein Junge“ lobte der stolze Vater. „Jetzt drück doch mal die Taste da, nee die andere. Mensch, Alter!“ Ich schaffe das tatsächlich und was soll ich euch sagen – plötzlich leuchteten auf dem Baum ein paar Dutzend Kerzen. Nicht schlecht, aber meine Gene waren das nicht. Die zwingen mich eher dazu, Heiligabend mit Gutscheinen um mich werfend den Wünschen meiner Enkel gerecht zu werden.

Wollt ihr noch wissen, wie ich meinen heroischen Kampf gegen den Kapitalismus, Politiker aller Couleur, Religionen mit und ohne Kopftuch, Immobilienhaie und Bayern München plane? Nein, wollt ihr nicht. Ist auch besser so. „Ein Teil dieser Antworten würde euch verunsichern.“ (Thomas de Maiziere)

Machts gut, Jungs. Ich trinke jetzt noch einen steifen Grog und pflege meine Neurosen.  

Ulrich 

#02

Lieber Fritz, liebe Monika,

jetzt komme auch ich ins Guiness-Buch der Rekorde. Musste in dieser Woche meine 6. Koloskopie über mich ergehen lassen. Natürlich wieder ohne schmerzstillende Mittel, ein Indianer und ein Kriegskind kennen keinen Schmerz. Für die Untersuchung gab es keinen besonderen Grund. Aber meine Onkologin ist eine ganz Liebe und möchte, dass ich 100 Jahre alt werde. Vorsichtshalber wird sie mich demnächst wohl auch noch zum Gynäkologen schicken. 

Was soll das? Schon seit vielen Jahren habe ich eine Grabstelle unter alten Bäumen gepachtet. Aber alle Welt scheint verhindern zu wollen, dass ich auch da hinkomme. Der Gastroenterologe meines Vertrauens will mich frühestens in fünf Jahren wiedersehen und dann reiche auch ein Stuhltest aus. Toll, und was mache ich jetzt in den fünf Jahren? Doch noch einmal die Sau rauslassen? Ich weiß garnicht mehr wie das geht, wisst ihr es? 

Eine weiß es: Elke. Anlässlich meines Geburtstages im Oktober will sie mich irgendwohin in die Walachei entführen, dort die Sau rauslassen und mit mir auf dem Tisch tanzen. Alles natürlich noch supergeheim. Ich habe sie an die andere Zauberin Circe erinnert und darum gebeten, nicht wie die Kumpels von Odysseus in eine Sau verwandelt zu werden. Dann wäre es mir schon lieber, von ihr in eine Katze verwandelt zu werden. Und wo könnte ich dann in Berlin wohnen? Natürlich in einem Miezhaus. Guter Witz. Eure Katzen lachen sich darüber tot.

Heute wäre Romy Schneider 80 Jahre alt geworden. Wir sind uns in Berchtesgaden ein paarmal kurz begegnet. Sie war damals 15 Jahre alt, ich 14. Ihr Halbbruder war eine Klasse über mir. Ihr erster Film „Wenn der weiße Flieder wieder blüht“ war eine Sensation in unserem Ort. Ich weiß nicht, wie oft ich zu ihrem Haus gepilgert bin, um ihr mein neues Fahrrad (Stricker, hellblau, mit Wimpel) vorzuführen. Sie hat sich dann aber lieber diesem Franzosen an die Brust geworfen. 

In der Tanzstunde in ESW konnte der alte Sadist Forster es nicht lassen, mich beim langsamen Walzer meine Kreise immer zu „Wenn der weiße Flieder wieder blüht“ drehen zu lassen. Ich habe mich dann entschlossen, als Double von James Dean durch die Forstgasse zu promenieren. Kein Erfolg bei den Dietemänner-Tussis. Sie kannten nur Rudolf Prack und O.W. Fischer. So musste ich schließlich ESW ungeküsst verlassen. Wer weiß, was mir dadurch erspart geblieben ist.

Nochmal zu Romy. Ihr Lieblingsregisseur Claude Sautet hat über sie gesagt, sie sei die Synthese aus allen Frauen. Das wusste ich schon mit 14. Aber ich kenne auch so eine.

Herbstliche Grüße nach einem traumhaften Sommer.

Ulrich

#01

Hallo Jungs,

dieses Weihnachten mache ich es mir mal leicht. Ihr bekommt alle den gleichen Brief. Ich kenne das noch aus der Generation meiner Eltern. Da wurden aus jeder Ecke des Familienclans sog. Jahresberichte verschickt. Dann konnten alle unter dem Tannenbaum nachlesen, wann Tante Erna sich in Rimini einen bösen Sonnenbrand eingefangen und Onkel Egon seinen neuen Partykeller mit Zapfanlage und Chiantiflaschen ausgestattet hat. Schadenfreude und Neid brachten wenigstens etwas Menschlichkeit in den Heiligen Abend. Weihnachten bedeutet mir schon lange nichts mehr. Aber bei einer schönen Flasche Rotwein hatte der alte Mann jetzt trotzdem auf einmal Lust, sich an die sehr unterschiedlichen Feste in seinem Leben zu erinnern. Vielleicht ging es euch ja auch einmal so ähnlich.

Los gehts mit Berlin 1943. Krieg. Jüdische Nachbarn verschwanden spurlos und an der Front starben junge Männer auf beiden Seiten zu den Klängen von Lili Marleen. In Berlin-Lankwitz erstrahlte die Wohnung in hellem Lichterglanz. Der verhätschelte Junge musste sich entscheiden, ob er lieber mit der elektrischen Eisenbahn spielt oder mit dem Schuco-Rennauto. Aber da waren ja auch noch die Armee aus Zinnsoldaten und der tolle Berliner Doppelstockbus, den Opa in Schlesien für seinen Enkel gedrexelt hatte. Unser polnisches Kindermädchen musste mich immer wieder auf ihm um den Tannenbaum schieben, bis Oma streng zum Weihnachtslieder-Singen aufforderte. Kurz danach wurden wir ausgebombt. Das habe ich den Engländern sehr übel genommen, besonders aber, dass sie mir mein geliebtes Spielzeug kaputt gemacht hatten. Scheiß-Tommies! Als Kind hast du eben andere Prioritäten. 

Dann Berchtesgaden 1945. Nachkriegsweihnacht. Nach abenteuerlicher Flucht einen Umkleideraum für Fahrer der Postbusse zugewiesen bekommen. Eine schmale Liege für Mutter mit meinem kleinen Bruder, für den großen verwöhnten Berliner Jungen ein harter Schlafplatz auf dem Bettvorleger. Weihnachten dann bei Onkel und Tante, die sich eine Bleibe in einer Nazi-Villa erobert hatten. Vor der Bescherung ging es statt in die Kirche zum Güterbahnhof. Die Großen klauten Kohle von den Waggons, die Kleinen standen Schmiere. Alles perfekt, als hätten wir nie etwas Anderes gemacht. So wurde es warm in der Herberge. Der im Wald geklaute Tannenbaum erstrahlte wie zu Friedenszeiten. Für uns Kinder gab es Äpfel, Nüsse, Kekse und Bonbons. Herrlich. Spielzeug Fehlanzeige. Aber mein Lieblingsonkel hatte auf dem Schwarzmarkt eine Dampfmaschine organisiert. Wir vier Jungs waren selig, wenn wir nicht immer wieder von den Weihnachtsliedern der Alten gestört worden wären. Mit Taschen voller Bonbons stapfte ich durch den Schnee nach Hause und sank todmüde auf meinen Bettvorleger. Ob Jesus in seiner Krippe gerne mit mir getauscht hätte? Meine Bonbons wären ihm sicher lieber gewesen.

Jetzt nach Eschwege. 1954 – 1960. Anfangs saß noch die ganze Familie Landrat zu Weihnachten in der Marktkirche, argwöhnisch beäugt vom Eschweger Bürgertum oder was sich dafür hielt. Die sind doch nicht von hier: Migranten aus Schlesien, Preußen und schlimmer noch, aus Bayern. Später hat sich mein Vater elegant von den Besuchen der Christmette verabschiedet und mich allein vorgeschickt, um der Familie wenigstens noch nach außen einen Hauch von Christentum zu bewahren. Der Schuss ging ja bekanntlich bei mir nach hinten los. Wenn ich dann nach Hause kam, gab es wie immer Bockwurst mit Kartoffelsalat in der Küche. Vater hatte inzwischen bei dem einen oder anderen Schnäpschen den Baum geschmückt und haufenweise mit Lametta beworfen. Ihm hat Loriot später mit seinem Bonmot „Früher war mehr Lametta“ ein wohl verdientes Denkmal gesetzt. Dann klingelte Vater mit einem Glöckchen und öffnete die Tür zum Heiligtum. Keiner wagte es, den Raum zu betreten, bevor nicht Oma mit zitternder Stimme „Ihr Kinderlein, kommet“ angestimmt hatte. Der dauerpubertierende Sohn leierte zum 100. Mal „Draußen vom Walde komm ich her“ runter, nahm seine Geschenke mit einer routinierten Mischung aus Freude und Enttäuschung zur Kenntnis, zog sich mit einem Buch zurück und freute sich auf den Gänsebraten am kommenden Tag. 

Berlin-Tiergarten, die Jahre nach 1968. Große Altbauwohnung mit Postern von Karl Marx und Che Guevara. An der Decke ein wagenradgroßer Adventskranz und dazu eine Nordmanntanne mit einer Höhe von 3,50 Metern, natürlich geschmückt mit teuren Schnitzereien aus dem Erzgebirge. Kein Lametta mehr, wir sind ja 68er, aber Ulrich im dunklen Anzug, Monika im roten Mini, dazwischen das strahlende Musterkind. Sieh her Berlin, wir sind angekommen. Weihnachten bei Graf Koks. Noch Mahalia Jackson mit „Silent Night“ aufgelegt und dann aber schnell Geschenke auspacken. Am Ende der Orgie blieb ein Berg Papier übrig, mit dem wir auch eine Tonne der Stadtreinigung hätten füllen können. Wars trotzdem schön? Ich weiß nicht. Unsere Weihnachten gefielen mir erst besser, als mein Sohn meinte, wir sollten das mit dem Baum und dem ganzen Brimborium drumherum vielleicht besser lassen. Vernünftiger Junge, heute natürlich in der IT-Branche.

Berlin-Tiergarten 2017. Ich habe einen Mistelzweig an meiner Wohnungstür angebracht. Fragt mich nicht warum. Vielleicht nur, damit sich der Eine oder Andere im Haus Gedanken über den ewig mürrischen Alten macht. Damit kann ich sie wunderbar ärgern. Jetzt müssen sie mich wieder grüßen. Habe immer noch keine Weihnachtsgeschenke. Wie üblich. Die Enkel wollen Geld oder Gutscheine. Keiner liest mehr schöne Bücher, keiner hört mehr anspruchsvolle Musik. Bitcoins, das wärs wohl für die Kids von heute. Aber es gibt auch noch das old school Weihnachten. Mein Sohn hat seinen alten Vater samt Enkel am 1. Feiertag zum Essen eingeladen und Elke, die Mutter aller Weihnachten, erwartet mich Heilig Abend am Kamin und Tannenbaum im beschaulichen Neukölln. So geht betreutes Weihnachten heute. 

Und demnächst? Heiligabend im Altersheim. Der alte 68er in Zimmer 68. Die Glotze ist aus, kein Fußball heute. Warum eigentlich nicht? An keinem Abend wäre er wichtiger. Von unten klingen Weihnachtslieder. Der Chor des Müttergenesungswerks singt mit brüchigen Stimmen „Stille Nacht, heilige Nacht“. Die alten Damen des Heims umkreisen dazu mit ihren Rollatoren den Tannenbaum. Die Tür geht auf, die stämmige Ludmilla aus der Ukraine kommt herein: „Herr Kubitz, wollen nicht runterkommen, Frau Merkel hat schon gefragt nach Ihnen.“ Die hat mir gerade noch gefehlt. Ich zeige bei mir auf da untenrum. Ludmilla entsetzt: „Ach nee, Opa, nicht schon wieder! Heute ist doch Weihnachten.“ Aber dann ist sie doch wieder meine Lieblingspflegerin, brutal und zärtlich zugleich. Sie weiß, was ich brauche. Dann habe ich wieder frische Windeln, strecke mich genüsslich aus und falte meine Hände über der Brust. Ludmilla geht und ich liege da wie der feuchte Traum eines Bestatters. Ob morgen Besuch kommt? Wahrscheinlich wieder nicht. Aber eine wird mit Sicherheit kommen. Ach Ludmilla.

Ja, Jungs, so oder so ähnlich waren meine Weihnachten oder werden sie sein. Ihr mögt mich für einen ausgemachten Weihnachtsmuffel halten. Damit kann ich gut leben. Alles besser als so zu werden wie Tante Milla in Heinrich Bölls herrlicher Satire „Nicht nur zur Weihnachtszeit.“ Solltet ihr euch unbedingt auf You Tube ansehen. Die hat Böll zum ersten Mal 1952 bei der Gruppe 47 auf Schloss Berlepsch vorgelesen. Ihr seht, ein bisschen Eschwege geht immer. 

Jungs, wie gehts weiter mit uns? Ein französischer Chirurg hat einmal gesagt: „Gesundheit ist das Schweigen der Organe“. In diesem Sinne wünsche ich euch eine wirklich „Stille Nacht“.

Ulrich