Greta würde Bartleby lieben. Er schont das Klima auf seine Art, das heißt, er bleibt zuhause. Einen Tag, eine Woche, einen Monat, vielleicht auch mal zwei. Spätestens dann aber steht seine strenge Gebrechlichkeitspflegerin aus Neukölln auf der Matte: „Der Alte muss an die frische Luft!“ Widerspruch zwecklos. Ostfrau. Komisch, von diesem Kino und dem Film hatte er noch nie gehört, bei so einem Vietnamesen noch nie sowas gegessen. War das eigentlich noch sein Berlin? Wo ist seine alte Allianz am Kudamm (Adlershof), wo ist der Gloria-Palast (Sony-Center), wo sind Hühner Hugo und Wienerwald (McDonalds)? Alles weg. Doch einer ist noch da: der „Zwiebelfisch“ am Savignyplatz. Unkaputtbar. Seit über 50 Jahren beste Zwiebelsuppe in town.
Vor genau 100 Jahren wäre das für Bartleby noch viel dramatischer gewesen. Da haben tolldreiste Politiker (gibt’s heute leider nicht mehr) aus einem bunten Haufen Dörfer und Kleinstädten ein Groß-Berlin mit fast 4 Mill. Einwohnern geschaffen. Heute undenkbar. Schon allein die Umsiedlung von Lurchen, Zauneidechsen und Fledermäusen hätte das Unternehmen zum Scheitern verurteilt. Berlin, das Ergebnis einer großen Umweltsauerei, was sonst. Übrigens: der Name Berlin kommt aus dem Slawischen und bedeutet soviel wie „Sumpfstadt“. Erstaunlich, wie weitsichtig die Slawen waren.
Berliner Gerichte sind ja inzwischen berüchtigt. Beispiel gefällig? Einstellung eines Verfahrens wegen Körperverletzung mit Fahrerflucht: Ein Radler wurde angefahren, die Ermittler konnten kein „öffentliches Interesse“ feststellen – u. a. „weil die Verletzungen nicht schwerwiegend sind“. Aha. Wieviel Schürfwunde darfs denn sein, bitte? “Reicht auch eine Prellung, oder sollte doch schon was gebrochen sein?“ fragt der Betroffene in diesem Fall (lt. Tagesspiegel). Bartleby fährt mit seinem Rad deswegen nur noch im Tiergarten. Dort lauert die größte Gefahr in Form von roten amerikanischen Sumpfkrebsen auf ihren Wanderungen zum Kudamm. Die Yankees sind schnell eingesammelt, dann Fahrerflucht und ab in den Kochtopf. Lecker.
So, dank Tagesspiegel hier noch eine Verkehrssache, zählen wir mal durch: Der Fahrer war 16, natürlich ohne Führerschein, den Smart von der Mutter geklaut, ohne Licht unterwegs, durch die Einbahnstraße, bei Rot über die Kreuzung, Vorfahrtsstraßen ignoriert, mit 120 Sachen durch die Tempo-30-Zone … da kommt einiges zusammen. Die Mutter kam übrigens mit dem Taxi dorthin, wo die Amokfahrt endete – und spuckte wütend nach ihrem Sohn. So, und jetzt Ihr: Wo fand das Ganze statt? Richtig, das war leicht: natürlich in Neukölln.
Die heimische Tierwelt hat sich ja mit dem Auto arrangiert. Bartleby wollte kurz vor seinem letzten TÜV-Termin den Motorraum seiner Luxuskarre reinigen. Aber was muss er da entdecken? Zwei Haufen von Erdnussschalen und Reste anderer Früchte. Marder können es nicht gewesen sein; die knabbern lieber an Kabeln. Sein Verdacht fällt auf Eichhörnchen, die ein erotisches Verhältnis zu Mercedes-Cabrios haben müssen. Das kommt davon, wenn ich mein Auto einige Wochen nicht bewege. Die sympathischen Gesellen denken sich dann vermutlich, dass ich das nur ihretwegen so lange vors Haus gestellt habe. Der Tierfreund Bartleby wird jetzt unter der Motorhaube ein kleines Erdnuss-Depot anlegen und vor jedem Start vorsichtshalber erst einmal hupen. Keine Angst, natürlich nicht zu laut.
Vor dem TÜV hatte Bartleby doch ziemlichen Bammel. Wird das das Ende sein für seine größte Liebesbeziehung? Sein Auto ist inzwischen 25 Jahre alt, eine alte Dame also, aber immer noch so elegant wie die späte Marlene Dietrich. Aber der junge Prüfer hat kein Auge für das verführerische Äußere (Platin-Wäsche 14,99 Euro), beschäftigt sich nur voller Eifer mit ihren Dessous. Bartleby, typisch mal wieder, hat sie lange nicht mehr gewechselt. Aus der Halle dröhnt, kracht und zischt es, dann ist es still. Das wars wohl. Dann Auftritt des jungen Prüfers. Mit ungläubigem Staunen reicht er den KfZ-Schein zurück. „Sie haben die Plakette.“ Ein Wunder. Was er nicht weiß, ist, dass die nur jemand kriegen kann, der sein Auto jahrelang so rücksichtsvoll und voller Gefühl behandelt hat wie eine Frau. Bartleby, der Autoflüsterer.
Bartleby ist ja berüchtigt für sein ständiges „Ich möchte lieber nicht“. Dabei berief er sich immer auf Herman Melvilles „Bartleby der Schreiber“. Jetzt muss er umdenken. Über die Feiertage hat er mal wieder im Buch von Josef Müller („Von der lieben Schulmeisterei“) geblättert. Den kennen nur wenige, aber er war der beste Lehrer, den der junge Bartleby am Gymnasium hatte. Was für ein beeindruckender Mann. Eine Persönlichkeit, die die Kriegswirren aus dem großbürgerlichen Prag ausgerechnet in das nur wenig verblasste braune Eschwege verschlagen hatte. 1950 hätte er Direktor der Friedrich-Wilhelm-Schule werden können. Die städtischen Gremien sprachen sich dagegen aus. Ein Argument: „Dass der Dr. Müller katholisch ist, mag ja noch angehen. Aber dass er nicht in der Partei war, das geht nicht.“ Stattdessen wurde es ein bigotter Prediger, den der junge Bartleby in seiner Schülerzeitung als pathologisch angeprangert hat. Dafür musste er ein Jahr vor dem Abi die Schule verlassen. So waren sie, die 50er Jahre.
Aber was ich sagen wollte: Müller-Mutz, wie wir ihn nannten wegen seiner Pfeife, war nicht nur der Mentor unseres Mitschülers Rolf Hochhuth („Der Stellvertreter“), sondern vor allem ein großer Goethe-Verehrer. Mit Schiller hatte er nicht so viel am Hut. In „Wallensteins Tod“ gibt es einen großen Monolog, in dem Wallenstein darüber spricht, dass schon das bloße Denken an eine Tat sie unvermeidlich machen könne. Sein Fazit vor einer Schlacht mit den Schweden „Ich will es lieber doch nicht tun“ fand Müller-Mutz zu banal. Goethe hätte das bestimmt faustischer formuliert, Egal, Bartlebys Wurzeln und sein berühmtes „Ich möchte lieber nicht“ gehen also nicht auf Melville, sondern auf keinen geringeren als Friedrich Schiller zurück. Auch nicht schlecht.
Bartleby hatte ja eine schlesisch-polnische Oma. Ihr Mantra nach seiner Entwöhnung von der Muttermilch lautete: „Iss Fleisch, mein Junge!“. Sehr zum Verdruss der veganen Feministinnen vom Prenzelberg hat der brave Junge so Krieg und Nachkriegszeit überlebt. Heute ist seine Küche ein wahres Bollwerk gegen Veganismus. Zuletzt gab es Russisch Raclette. Alle Reste, die sich nach den Feiertagen noch im Kühlschrank befanden, kamen in die Pfännchen: Raclettekäse, Speck, Birnen, Paprika, Oliven, Ziegenkäse, Rostbratwürstchen, Bündner Fleisch und mehr. Pfeffer, Honig und Ahornsirup drüber und einen kräftigen Schuss Rum. Dann wird flambiert. Die ersten Schweizer würden sich spätestens jetzt erschießen. Daher Russisch Raclette.
Noch ein Tipp für Berlin-Touris unter euch. Wenn ihr in der Stadt mit der S-Bahn unterwegs seid, hört ihr es oft aus den Lautsprechern bellen: „ZÜCKBLEIM!!!“ Nicht erschrecken, das ist nur Höflichkeit nach Berliner Art und bedeutet soviel wie „Zurückbleiben, bitte“. Dabei erinnert Bartleby sich an eine S-Bahn-Fahrt kurz nach der Wende. Bahnhof Friedrichstraße, ein Kontroletti tobt durch den Gang und schreit „Die Fahrscheine!!“ Allein Bartleby zeigt den Fahrgästen, dass hier ein Wessi im Wagen sitzt. „Geht das Ganze nicht auch in einem anderen Ton?“ Der Mann baut sich vor ihm auf und antwortet „Ich war jahrelang bei der VA (Volksarmee), ich kann nicht anders.“ Bartleby: „Abtreten!“ Dann war Ruhe. (Das war die Zeit, in der Bartleby noch ein toller Kerl war.)
Alexa, darf Bartleby nicht doch mal was Politisches schreiben?
Vergiss es!
Auch nicht über eine Oma, die im Hühnerstall Motorrad fährt?
Auch nicht! Du willst dich doch bloß wieder über alte Frauen lustig machen.
Und wenn Opa mit einem SUV durch den Stall brettert? Ist der dann keine alte Umweltsau?
Kommt darauf an, woher der SUV kommt.
Ich glaube, aus Bayern.
Stop! Ich bin doch nicht bescheuert. Jetzt wird’s doch wieder politisch.