Lieber Fritz, lieber Reinhold, hallo Fans,
das Wichtigste zuerst: Ich beobachte den Alltag und genieße das Leben ohne Zeitdruck. Das sagt Harald Schmidt, immer noch einer der Besten.
Sachen gibt’s. Da wohne ich seit mehr als 50 Jahren am Rande des Hansaviertels. Jahrelang gehe ich in die „Giraffe“. Das ist ein gutbürgerliches Restaurant in einem Hochhaus gleichen Namens, entstanden im Rahmen der Internationalen Bauausstellung 1956. Für mich bisher ein Haus wie jedes andere. Aber jetzt lese ich, dass der Architekt damals eine besondere Idee verfolgte. Die Stadt war ja voller Kriegerwitwen und Heimkehrern. Die brauchten keine 4-Zimmer Altbauwohnung, denen reicht auch ein Ein-Zimmer-Appartement. Also entwarf er ein Hochhaus nur für Singles. Männlein und Weiblein hatten alle nur ein großes Zimmer. Der Clou: Die Zimmer für Männer lagen alle auf der Seite mit Blickrichtung Osten (Brandenburger Tor), die Zimmer für Frauen alle auf der Seite mit Blickrichtung Westen (Funkturm). Die Apartements der Frauen bekamen noch eine kleine Küche mit Fenster dazu, die der Männer nur eine winzige Kochnische ohne Fenster. Begründung: Frauen stehen ja öfter in der Küche als Männer. Die Jungs können ja, wenn sie Hunger haben, auch unten im Restaurant „Giraffe“ essen.
So waren sie, die Fünfziger-Jahre der Nachkriegszeit. Aber heute ist das doch alles anders, höre ich aus der neuen Singles-Hauptstadt, heute würde so ein Konzept als sexistisch verurteilt werden und der Architekt von Feministinnen geteert und gefedert durch das Hansaviertel gejagt. Aber Bartleby findet´s gut. Er würde dort sofort ein Bratkartoffel-Verhältnis mit einer Nachbarin anfangen. Und seine Kochnische zu einer kleinen Bar umbauen. Dann klappt´s auch mit der Nachbarin.
Bartleby ist ja ein Kind der grauen Nachkriegszeit. Was das für den armen Jungen bedeutete, könnt ihr euch heute gar nicht mehr vorstellen. Was ihm eingebleut wurde, waren Ordnung, Sauberkeit und Pünktlichkeit. Kleines Beispiel für letzteres: Wenn damals im Radio die Nachrichten kamen, meldete sich immer eine monotone ernste Stimme wie aus dem Keller: „Beim letzten Ton des Zeitzeichens ist es 12 Uhr.“ – Piep, piep, piep. – „12 Uhr“. Oder „beim Gongschlag ist es 12 Uhr“. Gooonnnggg! Heute dagegen meldet sich auf Radio Eins die wunderbare Ost-Frau Marion Brasch vor den 12-Uhr-Nachrichten mit einem lockeren „Mittach!“ Dafür könnte Bartleby sie küssen. Ach ja, diese zauberhaften Ost-Frauen …
Übrigens, Oskar Lafontaine entgegnete damals Helmut Schmidt, dass man mit diesen Sekundärtugenden auch ein KZ leiten könnte. Guter Mann. Aber der Wehrmachtsoffizier Schmidt- Schnauze was not amused.
Jeder Berliner, liest Bartleby, verbringt im Jahr 62 Stunden mit der Suche nach einem Parkplatz. Jeder Berliner? Bartleby hat sich vor seinem Haus einen Parkplatz gesichert und gibt ihn so schnell nicht wieder her. Sogar einen zwischen zwei Bäumen, sodass die Krähen und Tauben ihm nicht einmal das Verdeck vollscheißen können. Jeder Regen macht den Wagen blitzblank, Ein Traum. Aber was macht Bartleby jetzt mit den gewonnenen 62 Stunden? Räum endlich mal deine Bude auf, tönt es aus der einen Ecke. Beweg dich mal wieder, aus der anderen. Bartleby ist dankbar für jede Anregung. Fast ist er schon auf dem Sprung, aber dann überkommt ihn wieder sein berühmtes „Ich möchte lieber nicht“.
Es kommentiert der große Menschenhasser Thomas Bernhard: „Der Nichtstuer als der Geistesmensch ist in den Augen derer, die unter Nichtstun tatsächlich nichts tun verstehen, weil in ihnen während des Nichtstuns tatsächlich Garnichts vorgeht, die größte Gefahr und als der Gefährlichste.“ Seht euch also vor!
Bartleby entwickelt sich allmählich zum „Prinz von Homburg“ der Küche. Kleist-Kenner wissen, wovon die Rede ist. Der Kurfürst von Brandenburg hatte vor der entscheidenden Schlacht die Order ausgegeben, dass niemand ohne seine ausdrücklichen Anweisungen angreifen dürfe. Der Prinz tat es dennoch, errang den Sieg und wurde trotzdem zum Tode verurteilt. So war das damals eben in Preußen.
Was hat das jetzt mit Bartlebys Küche zu tun? Ein Leben lang hat er sich preußisch exakt an die Befehle der Kurfürsten Tim Mälzer, Jamie Oliver und Vincent Klink gehalten. Die Küchenschlacht konnte nur gewonnen werden, wenn er sich haargenau an jedes Gramm, jeden Teelöffel und jede Minute hielte. Jetzt aber hatte Bartleby Lust, eine kleine Revolte anzuzetteln: Weg mit der Waage, es gibt auch Esslöffel und die Zeit einfach nach „Frei Schnauze“. Zum Schluss noch einen großen Klecks Butter extra. Das Ergebnis der Küchenschlacht: Sieg auf der ganzen Linie. Es hat super geschmeckt. Aber die drei Kurfürsten hätten den preußischen Anarchisten trotzdem am liebsten in der Mikrowelle verbrannt.
Morgen bereitet sich Bartleby wieder auf seine nächste Küchenschlacht vor. Er trifft seine Marktfrauen auf dem Ökomarkt. Schnitzel, Blutwurst und Hähnchenkeule. Das volle Programm. Ein paar Knacker können´s auch noch sein. Es kommentiert Bart Simpson: „Man findet keine Freunde mit Salat.“
Die Welt (wirklich die ganze Welt?) erinnert sich dieser Tage an die Mondlandung. Auch der junge Bartleby war damals fasziniert. Monika und er rissen den gerade auf die Erde gekommenen Sohn aus der Wiege und platzierten den kleinen Scheißer vor die Glotze. Er solle später einmal sagen können „Mondlandung? War ich doch dabei. Na und?“. Der alte Bartleby denkt heute anders über Weltraumfahrt. Keinen Cent mehr dafür, solange auf der Erde Kinder verhungern, Flüchtlinge im Meer ertrinken und das Klima vor die Hunde geht! Wenn wir das irgendwann erreicht haben, ist immer noch genug Zeit für Weltraumträume. Unsere Erde wird erst in ein paar Milliarden Jahren untergehen, also keine Eile. Bartleby überlegt, ob der Mensch das ändern kann. Es kommentiert der Astrophysiker Hermann Nicolai: „Wir sind so unvorstellbar unbedeutend, wie das Universum unvorstellbar groß ist.“ Bartleby braucht jetzt erst einmal einen unbedeutenden Malt Whiskey. Einen doppelten.
Zum Schluss die beliebte Rubrik „Berlin, aber Schnauze“. Leider waren die Berliner in letzter Zeit etwas maulfaul. Ich tröste euch aber mit ein paar Szenen aus dem wunderbaren Karikaturenband von OL „Die Mütter vom Kollwitzplatz“.
Also los: Die eine Prenzelschwäbin zur anderen: „Geschdern war I in Kreuzberg drübe. Du, des glaubsch ned, da gibt’s au Schwangere!“
Oder so: Zwei Muttis beim Smoothie im veganen Café. Es geht um die berühmte Szene im Film „Harry und Sally“. Die Eine: „Und? Ooch schon mal ´n Orgasmus vorjetäuscht …?“ Die Andere: „Wem denn…?“
Auch nicht schlecht: Zwei Mütter unterhalten sich bei einem Latte über ihre Kinder. Die Eine: „Letzte Woche räume ich das Zimmer meines Sohnes auf und finde – du glaubst es nicht – eine Schachtel Zigaretten. Das war sooo ein Schock für mich, ich hatte doch keine Ahnung, dass er raucht“. Darauf die Andere: „Ich hab Kondome gefunden. Bei meiner Tochter! Ich wusste nicht mal, dass sie´n Penis hat“.
Einer geht noch: Einkauf in einer Bäckerei. Eine Kundin möchte von der Verkäuferin wissen, warum sie so übellaunig ist. Antwort: „Jute Laune? Ham wa nich! Müsstn se morgn no ma komm. Da arbeitet ne Kollejin, die is nich aus Berlin.“
Aber Berlin kann auch anders (Tagesspiegel): 17.30 Uhr Bahnhof Stadtmitte. Die Geiger auf der Treppe machen gerade Pause. Ein wohnungsloser Mann fragt, ob sie „Hallelujah“ von Leonard Cohen spielen können. Und sie beginnen zu spielen. Menschen eilen vorbei. Der Mann sitzt auf der Treppe, hört zu. Und weint. Still und nur für sich…
Bartleby macht sowas melancholisch. Wer weiß, vielleicht ist er doch noch zu retten. Aber warum eigentlich?
Ulrich